Wehe Via Claudia - Reue in Reutte
Mittwoch, 17. August 2011: Füssen - Grenze Deutschland/Österreich - Fernpass (1216 m) - Landeck - Ried im Oberinntal (118 km)
Zuletzt verlässt der Franzose aus der Bretagne das Zimmer. Um seine Schwester im Krankenhaus zu besuchen. Sie ist gestürzt beim Radln um den Forggensee. Was genau passiert ist, weiß er noch nicht. Jedenfalls schläft er auch nächste Nacht hier und will wissen, ob er sein Bettzeug trotzdem abziehen soll. Man weiß ja nie bei den Deutschen. Jetzt habe ich das Zimmer für mich. Frühstart bei den meisten. Auch ich bin schon um kurz nach sieben beim Frühstück. Mit einer Japanerin auf 14-Tage-Europa-Tour und einer Süd-Koreanerin, die in Schwäbisch-Gmünd Kommunikations-Design auf Englisch studiert. Jetzt warte ich darauf, dass die Radläden öffnen. Außerdem hab ich mir einen ruhigen Start verordnet. Sortiere das Gepäck, erledige ein paar Dinge, kostenloses JH-Wlan funktioniert leider nicht. Der Fahrradladen an der Kempener Straße ist kurz nach neun noch nicht so richtig in Fahrt. Vielleicht kommt er auch nie dahin. Immerhin haben sie nach einiger Zeit einen Ständer, aber ich bekomme den alten nicht mehr ab. Eine Schraube für mein gelockertes SPD-Pedal haben sie auch nicht, immerhin kann ich Handschuhe (XLC Fahrrad Handschuh Voyager rot/grau L) kaufen, nachdem Tchibo meine ein paar Wochen alten "TCM Gel-Rad-Handschuhe L/XL", die sich bei der Berlin-Tour vor einem Monat auflösten, nicht ersetzen will, sondern gleich einen Verrechnungsscheck geschickt hat. Im Radladen am - genauer im - Füssener Bahnhof, wo die Armada der Neuschwanstein-Touri-Radler Schlange steht, um Räder zu leihen, ist der Reparatör Jarek im Eck superfreundlich. Gleichwohl liefert Shimano die Schrauben nicht extra. Muss ich gleich drei Schrauben plus Bügel kaufen. Kostenpunkt sieben Euro. Dafür gibt er mir noch Schrauben-Klebemittel.
Nach neun Kilometern Deutschland, davon sieben auf der Suche nach Schrauben, bin ich schon in Österreich. Die Beschilderung der Via Claudia Augusta, der ich zwei Tage lang folgen möchte, hat mich bis dahin schon mehrfach verlassen. (Eine sehr schöne Beschreibung der Via Claudia hat inzwischen Holger Nacken in seinem Buch "Alpenradler: Auf der Via Claudia Augusta von Deutschland nach Italien" nach vielfältigen Erfahrungen auf der Strecke publiziert.) "VIA"-Schilder tauchen offenbar aus Prinzip immer nur da auf, wo überhaupt keine Abzweigung ist. Sie haben keine Richtungspfeile, die mir weiterhelfen könnten. Schon bald ist Reutte, das nächste Ziel, doppelt ausgeschildert. Ohne, dass man erführe, was die beiden Varianten unterscheidet. Vor Reutte führt der von mir gewählte links-lechische Weg über den Lech und dann zurück, bevor er sich völlig verliert. Immerhin finde ich in Reutte Fahrradhinweisschilder zum Fernpass, doch bevor ich ihnen folgen kann, habe ich sie schon wieder verloren. Leichtsinnig habe ich Claudias Bikeline-Führer Via Claudia Augusta zu Hause gelassen. Zu viel Gepäck für zwei Tage Route. Claudia war vor ein paar Wochen hier. Jetzt Reue in Reutte.
Ich lande schließlich auf der großen Ausfallstraße zum Pass. Ansteigend. Ein Auto jagt das nächste. Horror. Bei der Klause kann ich wieder abfahren und finde im Talgrund den Radweg. Der kurz darauf kaum befahrbar
ist. In schwerstem Schotter stoße ich mich bergauf. Die Hinweistafel zu den Zünften an der Via Claudia hat keine Bank. Pausiere ich im Stehen. Jetzt folgen auch mal asphaltierte Passagen. Hinter Lermoos macht die Via vor dem Zugspitz-Panorama einen Riesenschlenker. Ich kürze etwas ab. Danach ist die Via kaum wiederzufinden. Immerhin steht ihr Name jetzt gelegentlich direkt auf dem Asphalt, verliert sich gleichwohl regelmäßig. Und ist plötzlich Wander- und Radweg zugleich. Gelegentlich mehr Wander- als Radweg. Ein italienisch heulendes Mädchen bekommt von mir ein Avanti mit auf den Weg, was ihre Eltern zu der Frage bewegt, wie weit es noch zum Blindsee sei. Ich setze mal drei Kilometer in die Welt. Drei Kilometer, die die Via Claudia und mich für immer in einen Zustand versetzen, der wohl nur mit Hilfe einer mehrjährigen Mediation jemals wieder zu beheben ist. Der Weg weicht unvermittelt nach links nahezu senkrecht ab. Damit nicht genug. Rudimentärer Schotter ist auch nicht ansatzweise eingeebnet. Der Weg ist kein Weg. Schon gar kein römischer. Er ist selbst gehend nur begrenzt zu bewältigen. Mit Rad nur mit Zeitlupen-Schieben. On and on. Wanderer kommen mir munter entgegen. Im Abstieg begriffen. Ich frage, lasse mir die Karte zeigen. Ja, noch 200 Meter und ich kann zurück zur Straße. Gerade da, wo die famous Via in etwas solideren Serpentinen dem Zenit zustrebt. Ich ziehe den Asphalt vor. Sehe so vom Zugspitzblick noch den Blindsee im tiefen Tal voller Bötchen und Badenden (Foto oben). Ein wunderschöner Sonnentag. Wird fast zu heiß. Gebe nach der Passhöhe der Via im Abstieg noch eine Chance, die im Nirgendwo endet. Mein Rad rollt von selbst auf den Asphalt und lässt sich auch nicht mehr von dem Fahrradverbotsschild aufhalten. Immer nur downhill bis nach Imst an den Inn. Den Radweg zwischen Fluss und Autobahn habe ich schon vor acht Jahren befahren. Laut, aber bestens asphaltiert. Bin erschöpft von der Arbeit der letzten Tage, dem Kampf mit der Via Claudia, der Hitze. Stürze mich ins Freibad am Stadtrand von Landeck. Das belebt. Erfrischung gegen die Hitze. Die Kräfte kommen zurück. So kann ich noch 20 Kilometer ins Oberinntal (Foto rechts). Auf dem Talradweg. Die Claudia-Ultras erklimmen schon direkt hinter Landeck einen bestialischen Waldweg auf ein Hochplateau, von dem sie bald wieder runterfahren müssen.
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