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Tour 36: Belarus - Arvidsjaur (2782 km)


VG WORTSee der Jugendherberge bei Ristiina, Finnland
Finnischer Triathlon:
Biken - Sauna - Schwimmen im See der Jugendherberge bei Ristiina


Zweiter Teil
Russland - Finnland - Schweden

Wie man 300 km an einem Tag radelt
Der weite Weg um den bottnischen Meerbusen


Störche in RusslandErste Russland-Eindrücke: Neuer Asphalt, Mücken, Kopierer, Störche und Tramper
Dienstag, 14. August 2007: ...Grenze Belarus/Russland - Pustoshka (156 km)
542 km bis St. Petersburg sagt der erste Kilometerstein. Weil alles so schnell ging, hab ich vergessen, die letzten weißrussischen Rubel gegen russische zu tauschen. Obwohl ich noch zwei Mal vor der Grenze zum Einkaufen gehalten habe, bin ich das Geld einfach nicht losgeworden. Die ersten 25 km sind neu geteert. Anders als auf den Karten zu sehen, führt die M20 nicht durch Nevel, sondern lässt den Ort rechts liegen.
Es ist wieder flach geworden. Nur kurz bekomme ich auf einer kleinen Anhöhe die Stadt und die endlosen Wälder ringsherum zu sehen. Verkehr gibt es so gut wie keinen. Zwei Mal werde ich gefragt, ob diese Straße nach Nevel führe. Immer auf Russisch, versteht sich. Ganz automatisch geht jeder davon aus, dass ich - sofern ich nicht sowieso Russe sei - auf jeden Fall Russisch verstehen könne.
Kurz vor Pustoshka kreuzt die große Verbindungsstraße nach Lettland. Jetzt ist etwas Verkehr. In Pustoshka sehe ich zwei Rucksack-Reisende. Sie kommen aus St. Petersburg und als sie merken, dass mein Russisch schnell an Grenzen stößt, switchen sie sofort in fabulöses Englisch. Sie trampen von Minsk nach Hause und wollen die Nacht an einem See verbringen, an dem ich sicher gut übernachten könne. Ein Moment zögere ich. Zum Glück bleibe ich. Denn bis ich am nächsten Morgen den See erreiche, bin ich schon mehr als eine Stunde unterwegs.

Zimmer im Hotel von PustoshkaEs soll ein kleines Hotel geben, und das gibt es tatsächlich. Die Frau am Empfang ist im Vergleich zu den bisherigen Rezeptions-Patroninnen recht jung und schlank. Freundlichkeit schwappt bei ihr aber auch nicht über. Und natürlich muss ich sofort zahlen. In Rubel. Laufe ich also erst zurück zum lokalen Geld-Automaten, der sich in einem Häuschen in der zweiten Reihe versteckt hat. Im Laden decke ich mich für Abendessen, Frühstück und mehr ein. Denn der riesigen tristen Hotelhalle sah man an, dass hier nicht an ein Frühstück zu denken ist.
Dann stellt sich die spannende Frage, ob ich ohne russischen Einreisestempel im Hotel registriert werde. Mein Vorteil: an der Rezeption steht ein Kopierer, mit dem mein Pass kopiert wird. Der psychologische Vorteil: Die Rezeptionistin ist davon überzeugt, alles getan zu haben. Die Überprüfung meiner Daten findet erst später bei der Polizei statt, wenn ich längst wieder in den Wäldern bin. So wird es auch an den nächsten Abenden sein.
Zum Abschluss bittet sie mich, mein Fahrrad mit aufs Zimmer zu nehmen (Foto links). Das ist nicht nur sicherer, sondern erlaubt mir auch Gepäck drauf zu lassen, kleinere Reparaturen bequem zu erledigen und das Rad als Kleiderständer für die tägliche Wäsche zu nutzen.
Das Hotel ist alt, aber die katastrophalen Zustände in den Jahren nach Ende der Sowjetunion sind passé. Nichts tropft im Badezimmer, heißes Wasser kein Problem, auch wenn die Ästhetik die alte sowjetische geblieben ist. Das Straßendorf Pustoshka ist so klein und unattraktiv, ich bin so müde, die Mücken sind so zahlreich und die Suche nach einem Internet-Café so aussichtslos, dass der Abendspaziergang ersatzlos gestrichen wird. Ich lese auf dem Bett in meinem von der Sonne aufgeheizten Zimmer.


Pskow: Sprung in den Fluss Welikaja
Pskow: Sprung in den Fluss Welikaja


Ein Kreml weitab von Moskau: Pskow
Mittwoch, 15. August 2007: Pustoshka - Pskow (195 km)
In dem heißen Zimmer hab ich schlecht geschlafen. Und dann esse ich, weil ich ja so gut erzogen bin, auch noch zwei der restlichen Möhren, die mir Katja mit auf den Weg gegeben hat, zum Frühstück. Grässlich. Rohe Möhren und Fahrrad fahren vertragen sich nicht. Widersprechen sich geradezu. Eigentlich weiß ich das längst. Aber manche Erkenntnis muss gelegentlich aufgefrischt werden. Die Möhren liegen den ganzen Tag unverträglich schwer im Bauch.
Dank der Querverbindung nach Riga kurz vor Pusthoshka ist jetzt kräftig Verkehr auf der Straße. Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen. Hinter Ostrov wird's besser durch einen Seitenstreifen. Auf dem kann ich stumpf und stur vor mich hinfahren und ungetrübt Autos, Busse und LKW an mir vorbeidonnern lassen.
Kreml von PskowKomme recht geschafft in Pskow (alias Pskov, deutsch Pleskau, estnisch Pihkva, finnisch Pihkova, polnisch Psków, litauisch Pskovas, lettisch Pleskava) an. Und zu guter Letzt sind es von der M20 noch ein paar Kilometer in der Abendsonne an der Welikaja entlang, in die viele Jungs sich ein ums andere Mal stürzen (Foto oben), bis zum Herzen von Pskow, dem Kreml (Foto links).
Der Kreml ist verwaist. Eine große Festung mit einer riesigen Kathedrale, die geschlossen ist. Ich bin überhaupt nur aufs Gelände gekommen, weil vor der Festung am Abend Theater gespielt wird. Eine Hakenkreuzfahne hängt auf der Open Air Bühne. Ja, Hitlers Schergen kamen auch hierhin nach Pskow. 900 Tage belagerten sie St. Petersburg.
Als ich spätabends im VIP-Raum des Internet-Cafés gegenüber vom Hotel Oktjabr (der VIP-Raum hat keine Musik und ich kann mit meinem USB-Sticks arbeiten) die Wind-Vorhersage bei wetteronline aufrufe, breitet sich Euphorie aus. Nachdem ich schon heute fast 200 km gefahren bin, kommt morgen zum ersten Mal auf dieser Tour der Wind aus Süd-West: Rückenwind!


Längste Etappe aller Zeiten: 292 km nach St. Petersburg
Donnerstag, 16. August 2007: Pskow - St. Petersburg (292 km)
Kann ich 300 km an einem Tag radeln? Die weißen Nächte sind vorüber. Trotzdem geht die Sonne heute erst um 21.51 Uhr unter. Dann kommt immer noch die Dämmerung. Ist das zu schaffen? 280, 290 km bis St. Petersburg. Ziemlich genau die Entfernung zwischen Hamburg und Berlin. Meine bisher längste Strecke: 258 km in Libyen. Das ist sechs Jahre her.
Zu den ganz wenigen Internet-Foren, zu denen ich bisher beigetragen habe, gehörte vor Jahren eine Diskussion zur Frage "Kann man 300 km an einem Tag radeln?" Mein Statement etwa: "Wenn man vorher schon einige Tage weite, aber nicht zu weite Strecken gefahren ist. Wenn die Strecke relativ flach ist. Wenn man Rückenwind hat. Wenn das Fahrrad optimal eingestellt ist und keine Defekte hat. Wenn man sich richtig ernährt. Wenn man Erfahrung mit Ausdauer-Leistungen hat. Wenn man sich mental optimal einstellt und die ganze Strecke über die mentale Spannung halten kann. Dazu gehört sich schon einige Tage auf diese Strecke einzustellen. Wenn der Wille da ist. Dann: JA!"
Nebel im Morgenlicht bei PskowZwei Mal hatte ich in den letzten Monaten schon mental an der 300 km Marke gekratzt. Im Dezember hätte ich von Mauretaniens Hauptstadt Nouakchott ins senegalesische St. Louis an einem Tag fahren können. Das ergab sich aber erst am Abend, als es schon dunkel war und ich wider Erwarten noch den Grenzfluss überqueren konnte. Da fehlte die mentale Vorbereitung. Aber ich hatte zum ersten Mal das Gefühl: Heute wär es möglich gewesen.
Im Februar, im Sudan, hatte ich mir die 300 km vorgenommen, aber Wetter und Wind und vor allem zahlreiche Reifenpannen machten es mir unmöglich. Also jetzt?
Zum ersten Mal dran geglaubt hab ich gestern Abend durch die Windvorhersage von wetter online: Südwest-Wind, Stärke 2. Seit Tour-Beginn habe ich relativ stetigen Ost-Wind gehabt. In dieser Nacht die Wende. Trotzdem ist am Morgen alles offen. Relativ locker starte ich um 8.15 Uhr. Ohne Hektik. Ohne Stress. Will die ersten Kilometer abwarten vor einer endgültigen Entscheidung. Auf meinem Tourenplan stehen eigentlich nur 144 km bis Luga. Aber dort gibt es kein Hotel. Nur in der Nähe zwei, drei Sanatorien, die aber in der Regel wenig begeistert über One-Night-Stands sind.
In meinem sehr detailierten Auto-Atlas (Maßstab 1:500.000) für den „Leningradskaja Oblast“ (der feiert heuer sein achtzigjähriges Bestehen und ist von der Rückbenennung St. Petersburgs unberührt geblieben) zu dessen Erwerb ich mich mal auf der Frankfurter Buchmesse hinreißen ließ, habe ich zwei, drei Hotels etwa bei km 240 in Gatchina entdeckt.Das könnte eine Lösung sein, wenn es nicht mehr weiter ginge. Aber St. Petersburg ist das bessere Ziel, weil ich so einen ganzen Tag für die Stadt der weißen Nächte habe.
Ich radle los. Ich kaufe noch ein paar Lebensmittel und komme dann richtig in Fahrt. Tatsächlich: Rückenwind aus Südwest. Ich spüre ihn sofort, obwohl zunächst ringsum Nebel (Foto rechts) herrscht. Es läuft von Beginn an super. Und von Stunde zu Stunde immer besser.

Blumen und Gemüse am Straßenrand zwischen Pskow und St. PetersburgDie ersten 80 km ist die Straße recht rumpelig und hat vor allem keinen Seitenstreifen. 200 km vor St. Petersburg wird sie besser und bleibt es fast durchgehend. Verkehr ist reichlich, aber nicht zu viel.
Die ersten Stunden liege ich bei 23 km/h, deutlich über meinem Durchschnitt. Psychologisch hilfreich: Ich werde immer schneller. Die größte Gefahr: zu schnell. Grad beim schnellen Fahren spüre ich die Erschöpfung häufig erst zu spät. Gut, dass ich das weiß. Kurze Pausen und das Anfahren danach geben meist ein genaues Gefühl vom Power-Zustand.
Es läuft einfach heute. Und ich profitiere von all den Ausdauer-Events, die ich hinter mir habe - samt aller Einbrüche. In meinem Kopf hämmert der Slogan, den ich mal bei einem Ironman aufgesogen habe: You can go the extra mile! Mein Mantra. Immer wieder. Immer weiter.
Um 13 Uhr habe ich 105 km hinter mir. Und dann kommt ein brillianter Nachmittag. Es wird ein kleines bisschen hügelig. Aber genau so, dass ich in einen traumhaften Rhythmus komme, ohne mich anstrengen zu müssen. Und die stetig steigende Durchschnitts-Geschwindigkeit schreit mir zu: Du kannst es schaffen.
Auch heute Wälder, Felder, Holzhäuser, Flüsse. Die Überquerungen von Flüssen sind Highlights. Sie unterscheiden sich sehr.
Nicht immer kann ich mich dazu bringen, ein Foto zu machen. Nur an dem einen, in dem die Algen in der schwachen Strömung schweben (Foto rechts). Da bin ich schon sehr, sehr weit gefahren und immer noch weit vom Ziel.
Punkt 19 Uhr, nach genau 10 Stunden reiner Fahrzeit, 243 km, also 24,3 km/h, erreiche ich Gatchina. So viel weiß ich aus meinen Führern: Es ist eines der Potsdams von St. Petersburg. Sommerschlösser und Parks.
Nur ein paar Meter links ab von der Strecke stehe ich vor der weit ausladenden Fassade des nicht sonderlich restaurierten Schlosses, das Katharina die Große ihrem Lover Grigori Orlow geschenkt hat - als Dank, dass er ihr Peter III. vom Halse schaffte.

Junger russischer Mann mit freiem Oberkörper und Bierflasche in GatchinaSchön ist vor allem der Park (Foto links unterhalb). Hier gelingt mir endlich ein Foto von jungen Russen, die mit freiem Oberkörper herumlaufen (Foto rechts). Eigentlich begleiten sie mich schon die ganze Tour. Aber erst in den letzten Tagen ist mir bewusst geworden, wie viele Jungs mit freiem Oberkörper herumlaufen. Und es sich leisten können.
Auch die Mode der jungen Frauen mit ihren kurzen knappen Höschen, die nur noch einen Hauch von Hosenbein haben, mit verschiedensten Oberteilen die Rücken oder sonstiges frei lassen, ein Outfit, das andernorts nuttig interpretiert würde, versuche ich mehr schlecht als recht vom rollenden Rad aus zu fotografieren. Ich bin schon leicht High. Oder mehr als leicht. Und das wird sich weiter steigern (High-Fotos von Russlands jungen Beauties hier).
Bei der Ausfahrt aus Gatchina frage ich nach dem Weg. Die Gegenfrage lautet: "In welchen Teil von St. Petersburg wollen Sie denn?" Wow. Ich bin verdammt nah am Ziel. Und ich weiß: ich werde es schaffen. Den ganzen Tag über keine Einbrüche, keine Tiefs. Es ist unglaublich. Zwei Muffins, zwei kleine Kuchen, ein Snickers, ein Bounty. Aber viel getrunken. Sieben Liter. Still und sparkling, Pfirsichsaft, Bitter Lemon. Erst am späten Nachmittag habe ich eine Pepsi zum wach bleiben getrunken.
Nur gelegentlich ergreift mich jetzt ein leichter Trance-Zustand. Doppelt aufpassen. Der Verkehr wird dichter. Auch wenn die Straße endlich vierspurig geworden ist.

Park von GatchinaRund 30 Kilometer vor St. Petersburg Stau in der Gegenrichtung. Ein Stau, der fast bis in die Stadt anhält. Etwa 20 Kilometer vor dem Ziel geht es unerwartet bergab. In einer großen Schleife nimmt das Rad richtig Fahrt auf. Ich rolle runter zum Newa Delta.
Die Stadt liegt im Dunst des Flusses. Und schon passiere ich jetzt achtspurig die wenig spektakuläre aber den ganzen Tag vor meinen Augen schwebende Markierung: St. Petersburg (Foto rechts). Links und rechts Flughafen, Shopping Malls mit riesigen Parkplatz-Flächen. Hier und da auch ein Radler. Ich bin happy, happy, happy. Trotz der Ungewissheit über eine Unterkunft.
Die Stadt zieht sich ewig, obwohl sie immer schon Zentrum ist. Die gleiche Traufhöhe, große Plätze und der größte aller Plätze mit einem überdimensionierten Lenin. Leningrad eben. Der Kilometer-Zähler, der bei Fahrten in große Städte häufig ein guter Gradmesser für die Zentrums-Nähe ist, sagt: weiter.
Ich will bis an den Fluss, ins Zentrum des Zentrums. Und die Straße führt immer geradeaus mitten ins Herz. Nur ganz zuletzt muss ich einen kleinen Bogen schlagen, um dann an der Kathedrale, an der Admiralität, an der Newa zu halten. 290 km. Und es könnte noch zwei, drei Stunden weitergehen.
Es ist nach 21 Uhr und immer noch hell. Dunstig hell. Auch eine Art weiße Nacht. Ich habe zwei Hostels im Visier, die einzigen günstigeren Unterkünfte im Zentrum. Bei beiden heißt es, eine Reservierung sei notwendig, weil sie in der Regel ausgebucht seien.

Sankt Petersburg: StadtgrenzeBeim ersten überwinde ich nicht mal den wenig repräsentativen Hinterhof-Eingang. Über die Fernsprecheranlage erfaher ich: Njet.
Bleibt als Hoffnung: Nord Hostel. Ich packe das Fahrrad gleich untern Arm auf der breiten repräsentativen Treppe. Lasse es auf halber Höhe stehen und schleppe mich zur Mini-Rezeption an der Eingangstür im ersten Stock, hinter der sich ein mit etwa 14 Betten gefülltes (und volles?) Dormitory abzeichnet. Das Wunder: Sie haben noch ein Bett frei. Direkt hinter der Rezeption. Mit 25 Euro ist es nicht superbillig, für St. Petersburg sehr günstig. Mit Piano, free Internet, Frühstück, Waschmaschine. Ein echter Traveller-Treffpunkt.
Ich habe wieder Schwierigkeiten mit meinem File-Transfer-Programm, sodass ich meine aktualisierte Homepage nicht ins Netz bekomme. Aus Frust und Müdigkeit kopiere ich auch nicht die Fotos des Tages, dieses Tages auf meinen Stick, was ich am nächsten Tag bitter bereuen werde. Ich bin dann doch erschöpft. Ein großartiger Tag. Eine großartige Strecke mit einem großartigen Ziel. Und morgen habe ich einen Tag Zeit „gewonnen“, um mir St. Petersburg anzuschaun.


St. Petersburg: Die Peter und Paul Festung mit der gleichnamigen Kathedrale
St. Petersburg: Die Peter und Paul Festung mit der gleichnamigen Kathedrale


Euphorisiertes St. Petersburg und der ernüchternde Foto-Chip
Freitag, 17. August 2007: St. Petersburg

Ich schlafe lange nicht ein. Bin aufgewühlt. Erst spät kommt eine dreiköpfige Mädchengruppe zurück. Ein paar Mücken. Durchzug. Und mein Gepäck nicht übermäßig sicher verstaut.
Trotzdem bin ich am Morgen aufgeräumt. Das Nord Hostel bietet in einer kleinen Küche self-service Frühstück an. Ein Brasilianerin ist da, die nach einem Winter in Oslo von der globalen Nordhalbkugel genug hat. Französinnen, Spanier. Eben echtes Hostel-Flair. Seitdem ich etwas ausgefallenere Ziele ansteuere, ist so was selten geworden. Ich genieße es, aber bleib innerlich in meiner eigenen Einsamkeits-Reisewelt.
Mega-Museum Eremitage (russisch Ermitage in St. Petersburg von außenDas Erlebnis von 292 km an einem Stück auf dem Sattel passt hier nicht rein. Es erfüllt mich, überfüllt mich. Glücks-Hormone sprießen über, überkommen mich den ganzen Tag. Zugleich Leere. Bei tristem Wetter bewege ich mich langsam gehend durch die Weite der Stadt. In einem großen Rundgang über die langen Brücken, die die Herzstücke Petersburgs miteinander verbinden.
Der Sommer-Park voller barock-üppiger Figuren (Fotos davon und von St. Petersburg hier). Eine große usbekische Moschee, die irgendwo nach Zentralasien gehört, wo vielleicht der gleiche windige Kassierer willkürliche Eintrittsgelder sammeln würde. Die Peter und Paul Festung, Urzelle der Stadt aus dem 18. Jahrhundert.
Überall Hochzeitspaare. Vor der Kulisse einer riesigen Wasserfontäne in der Newa lassen sie sich im Minutentakt in Schwarz und Weiß fotografieren und zerdeppern das Sektglas auf dem Pflaster.
Es regnet. Zum ersten Mal so richtig. Und ich brauche nicht zu radeln. Kann in das Mega-Museum Eremitage (russisch Ermitage; Foto links) gehen. Fast wie der Louvre. Nur voller, stickiger, belebter, schwüler. Und dann Peter der Erste, der Große, wie er abhebt auf seinem Ross von dem Fleckchen Erde, für das er seine Vision in die Welt gesetzt hat und die seit 1991 wieder nach ihm benannt ist: St. Petersburg, im russischen ohne "S": Peterburg.
Zuletzt der Newski Prospekt, die Einkaufsstraße, auf die ich auch in Mailand, Paris oder Madrid stoßen könnte. Ich trotte mit meiner Mischung aus Euphorie und Ernüchterung bis ans Ende, zum Moskauer Bahnhof. Züge mit 101 Stunden Fahrzeit gehen hier ins Gleis. Was für ein Land.
Dann im Internet-Café. Worst case. Auf meinem Foto-Chip lässt sich kein einziges Bild mehr betrachten. Alles weg!? Zum Glück habe ich vor zwei Tagen in Pskow die letzte Sicherung auf meinem Stick gemacht. Aber es fehlen die längste Etappe und St. Petersburg: mehr als hundert Bilder. Gestern abend hätte ich in meinem Hostel alle Bilder sichern können. Ich war zu träge, zu erschöpft.
Stimmung down. Vor allem: wie viel Bilder kann ich jetzt noch machen? Ich habe nur noch einen winzigen Ersatzchip, auf den etwa 15 Bilder passen. Alle 15 Bilder brauche ich ein Internet-Café. Und der File-Transfer funktioniert aus unerfindlichen Gründen auch nicht. Die frohe Botschaft meines Ultra-Ritts nach St. Petersburg bleibt das Geheimnis des amerikanisch-russischen Computers und mir. Die Aktien fallen in die Banken-Krise. Trostlos.
Erst Wochen später zu Hause gelingt es mir, die Fotos mit dem "PC Inspector smart recovery" wiederherzustellen. Auch heute Nacht kommt die Mädchen-Gruppe sehr spät, oder früh. Ich schlafe schon bestens.


An der russischen Ostsee nördlich von St. Petersburg
Endlich an der Ostsee: Nördlich von St. Petersburg (18.8.)


Sowjetische Strafen für finnische Architektur
Samstag, 18. August 2007: St. Petersburg - Primorsk - Wyborg (185 km)
Ich bin früh auf und davon. Gegen den Fotofrust von gestern Abend mache ich zwei Sicherheitsshots: Eremitage und Peter und Paul Festung (beide Fotos s.o.). Dann finde ich eine grüne Route durch Parks hinaus aus der 4,5-Millionen-Metropole nach Norden. Finnland ist nah.
Irgendwann hänge ich dann doch in der Auto-Karawane auf der M10 stadtauswärts. Neue Wohnblocks. Teils in Luxus-Ausführung. Ein Abzweig bringt mich in die "Kurortnaja Sona". 26 km Radweg führen zwischen Straße und Strand, durch Bäume, deren Wurzel den Asphalt an allen Ecken und Enden von unten aufbrechen. Nicht optimal.
Eine Skater-Gruppe skatet gleichwohl die ganze, schöne Strecke. Endlich bin ich an der Ostsee (Foto oben). Am Nachmittag erreiche ich Primorsk. Etwas abseits steht eine Granit-Kirche des finnischen Architekten Josef Stenbäck mit einer Mischung aus Gotik und einem Tick Jugendstil. Hundert Jahre ist sie alt und wirkt von außen reichlich heruntergekommen. Wie der ganze Ort.
Wi-Burg von Wyborg (deutsch Wiburg, finnisch Viipuri, schwedisch Viborg)Finnisch war lange Zeit auch Wyborg (deutsch Wiburg, finnisch Viipuri, schwedisch Viborg). Hier hat ein finnischer Meisterarchitekt gewirkt. Alvar Aalto. Die in seinem typischen Weiß gehaltene Stadtbibliothek wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Sowjets mit einer schwarzen Granitfassade versehen. Aalto betrachtete sie seitdem nicht mehr als sein Werk, was nicht verhindert hat, dass das Gebäude heute seinen Namen trägt.
Auch dank seiner Wi-Burg (Foto rechts) wirkt Wyborg nordisch, skandinavisch. In der Burg steigt heute abend ein Rock-Festival. "Ljudi", "Leute". Rund zehn Euro kostet der Eintritt für ungefähr zehn Musikgruppen. Viele schräge Typen tauchen hier auf, Punks. Und hier wie überall im Ort fast kein Mann und keine Frau, der/die nicht eine Flasche oder Dose Bier in der Hand hält. Viele wanken. Eine voll trunkene Frau auf dem Hauptplatz schafft es nicht mehr Hosenknopf und Gürtel zu schließen. Ich helfe ihr und verdiene mir einen dahinschwankend zugeworfenen Handkuss.
Ich frage mich durch zum peripheren Internet-Café. Das Souterrain-Terrain ist von innen verschlossen. Viel Polizei. Viele Taxen. So ganz bin ich immer noch nicht in Skandinavien.


Sicherheits-Räumung auf dem breitesten Fahrradweg: Welcome to Scandinavia!
Sonntag, 19. August 2007: Wyborg - Grenze Russland/Finnland - Lappeenranta - Partakoski - Ristiina (161 km)
Im Hotel lassen sie mich erst runter auf den Hof und auf der andern Seite ins Restaurant laufen, um mir zu sagen, dass ich eine Frühstücksmarke auf meiner Hoteletage hätte besorgen müssen. Mit übelster Laune tauche ich wieder bei den Frauen auf, die mich wortlos an sich vorbei ziehen ließen. Diese scheinbar unkaputtbare Mentalität des Null-Bock auf Gäste nervt. Noch 40 km Sowjetunion.
Wasser, Wald und Wolken in KarelienEs ist schon Karelien. Ewig weite Wälder und Wasserflächen (Foto links). Die Straßen sind jetzt optimal, westlich, skandinavisch, russisch. Wie auch immer. Es rollt. Lange an einem Kanal entlang, an dem sich schließlich eine LKW-Schlange drei Kilometer lang aufreiht. Am Sonntag.
Meine Grenz-Abfertigung geht schnell über die Bühne. Nachdem die Grenzbeamtin einige Zeit skeptisch meine beiden Pässe, mit dem belarussischen und russischen Visum und dem einzigen Einreise-Stempel von Brest betrachtet hat, greift sie zum Telefon. Eine mittellange Bürokraten-Diskussion entfacht sich, bis sie dann wortlos ihren Ausreisestempel auf eine meiner letzten Passseiten hämmert. Ein, zwei Kilometer fahre ich durch duty-free-country. Dann die riesige, nagelneue EU-Euro-Finnland-Außengrenze-Anlage. In einem gläsernen Pavillon muss ich durch die Passkontrolle. Der Grenzer begnügt sich nicht mit einem Pass, sondern will den russischen Ausreise-Stempel sehn.
Finnland. Die Landschaft ist kaum verändert, aber allein durch die majestätische Straße wirkt sie nicht mehr so karelisch. Ein breiter separater Fahrrad-Weg scheint zunächst allein für mich gebaut. Dann werde ich von einer Familie auf skandinavische Sicherheits-Standarts eingenordet. Eigentlich habe ich die walkenden Eltern mit ihrer radelnden Tochter nur gefragt, wo es lang geht. Vor einer Antwort müssen wir aber auf Eltern-Anweisung alle komplett den Fahrrad-Weg räumen, auch wenn auf tausend Meter in jede Himmelsrichtung zu erkennen ist, dass niemand jemals an uns vorbei will. Welcome to Scandinavia!
Lappeenranta (schwed. Villmanstrand), die erste Stadt. Tankstellen, Restaurants, Geschäfte. Alle geöffnet am Sonntag Mittag. Ich falle in einen Kaufrausch. Als wenn ich im Urwald gewesen wäre.
Nach erneutem Straßen-Karten-Check in der Tankstelle entscheide ich mich für eine Nebenstrecke über die 408 und 409. Mit zwei, drei Mal fragen finde ich sie und eine Verbindung zwischen beiden. Nicht asphaltiert, gelegentlich als Wellblech daherkommend, ein wunderschöner hügeliger Pfad durch Seen und Wälder. Weitere Belohnung: Die Jugendherberge ein paar Meter südlich von Ristiina.
Die Holzbaracken sind mehr oder weniger nach außen offen und künden eine eher kühle Nacht an. Die rauchende Holzhütte am See macht das vielfach wett. Von der Sauna in den See (Foto ganz oben) zum Schwimmen. Der finnische Triathlon ist perfekt. Auch wenn die Dusche am Ende sehr kurz ausfällt, weil der Rauch plötzlich im Raum und nicht im Schornstein ist.
Der gemischte estnische Chor mit Jung und Alt hält auch das Lagerfeuer am köcheln. Romantik pur. Gewürzt mit vielen Gesprächen über die Angst vor Russland (auch wenn sich in die unentwegten Handy-Gespräche gern ein russisches "Dawai!" einschleicht), baltische und estnisch-finnische Kooperation und Rivalität, so wie die Hyper-ITisierung der estnischen Lebenswelt.
Am Ende bekomme ich sogar ein eigenes Zimmerchen. Ich bin zunächst nach Jugendherbergsvateranweisung in das einzig freie Bett des engen Gruppenraums gestiegen. Die Beauty-Queen des Chores ist nicht amused, als sie mich neben ihrem Bett vorfindet und sorgt dafür, dass doch noch ein Schlüssel für einen weiteren Raum auftaucht.


Rautalampi: eine Jugendherberge zur Vermarktung von Kunstwerken
Montag, 20. August 2007: Ristiina - Mikkeli - Pieksämäki - Rautalampi (137 km)
Der estnische Nationalstolz gestern Abend speiste sich wohl auch aus ihrem heutigen Unabhängigkeits-Feiertag. Ich habe innerlich etwas zurückgeschaltet. Komme erst gegen Frühstücksende dazu. Seit ich Petersburg in einer Gewaltetappe erreicht habe, ist ein Gipfel überschritten.
Komme erst um zehn Uhr (nach Moskauer Zeit, die bis gestern galt: elf!) los. Fliege dann aber. Über die Hügel. Die finnische Seenplatte vermittelt von der Landkarte her den Eindruck, alles sei eine große Ebene und liege quasi auf einer (See-)Höhe. Falsch. Es geht auf und ab. Und auf den gelegentlichen Radwegen noch stärker. Weshalb ich sie auch gern rechts liegen lasse. Zumal sie schlecht asphaltiert und in der Regel überhaupt nicht beschildert sind. Meist ist trotzdem klar, wo's lang geht.
Landhaus-Hotel in Rautalampi, FinnlandNach Pieksämäki werd ich noch mal schneller. Will so richtig Strecke machen heute. Völlig unerwartet gerät der Express ins Stocken. Die gegen Norden immer weniger werdenden Quartiere machen jede Weiterfahrt unsinnig. Und durch das hohe Tempo bin ich viel früher matt als sonst. So lande ich am Ende doch in der Jugendherberge von Rautalampi.
Ein Landhaus (Foto rechts). Wieder Familiengeführt. Riesen-Zimmer mit Riesen-Kunstwerken. Die Herbergsmutter ist Künstlerin. Und man kann den Eindruck haben, die Jugendherberge ist Mittel zum Zweck: Käufer für ihre Bilder herzulocken.
Das Fahrrad bewahrt mich davor, selber zuzuschlagen. Ein Foto muss reichen. Doch liegt auch hier die Herberge am See. Wieder ein Traumbad. Und am Computer des Sohnes kann ich mein Online-Tagebuch voranbringen. Mein Riesen-Appartment eignet sich dann bestens für den ultimativen Wasch- und Check-Gang. Noch vier, fünf Tage auf dem Rad.


Finnland: Wälder und Wasser
Finnland: Wälder und Wasser


Der Otto-Mat und das Holzhäuschen direkt am See
Dienstag, 21. August 2007: Rautalampi - Pyhäjärvi (163 km)
"Heute ist der erste Herbsttag", sagt die Herbergsmutter und Künstlerin, als ich zum Frühstück komme. Es ist von Tag zu Tag ein bisschen kälter geworden. Heute ist das Kartenfach in meiner Lenkertasche zum ersten Mal von innen feucht. Aber die Sonne scheint weiter. Und als ich losfahre, bin ich wieder in meinem kurzen Trikot.
Holzhäuschen im Vier-Sterne-Camping-Platz von Pyhäjärvi-Emolahti, FinnlandDie paradiesische Jugendherberge am See von Rautalampi hat ein noch paradiesischeres Frühstück. Im Sonnen-beschienenen Wintergarten enthält das (nicht nur im Vergleich zu den rudimentären russischen Frühstücken) gigantische Buffet Spezialitäten wie Porridge mit Blaubeer-Suppe. Einer der beiden älteren Herren, neben mir die einzigen Gäste, redet zunächt unaufhörlich auf Finnisch auf mich ein, um dann völlig zu verstummen.
Über recht einsame Sträßchen geht's 90 km lang und es taucht kein einziges mögliches Quartier auf, nicht mal ein kleines Lädchen. Gut, dass ich gestern nicht mehr weiter gefahren bin. Viele Hügelchen, ganz viele Bäume, hier und da ein See. That's all.
Am frühen Nachmittag lande ich dann auf der E75, die ich länger als geplant umgehen konnte. Irgendwann gibt es keinen direkteren Weg nach Norden. Der Verkehr hält sich auch hier in Grenzen. Vor allem kann ich auf dem Seitenstreifen meine Pedalen treten.
Endlich entdecke ich einen Geldautomaten. Marke "Otto". Dummer Weise hat er zwei Schlitze. Noch blöder: Aus dem einen kommt meine EC-Karte immer wieder zurück, in den anderen lässt sie sich gar nicht einschieben. Auf dem Monitor lässt sich dank der prallen Sonne nix erkennen. Ein Passant verweist mich auf eine andere Bank vis-a-vis, ebenfalls mit Otto-Mat. Die Lösung im Schatten: Man kann die Karte nicht ganz einführen. So weit wie geht rein, das reicht. Und schon gibt's Euros.
Mangels erreichbarer Jugendherberge steuere ich den Vier-Sterne-Camping-Platz von Pyhäjärvi-Emolahti an. Nix los hier. Die Saison ist vorüber. Die finnischen Pennäler pauken Pisa-Punkte. Ich bekomme ein Holzhäuschen (Foto links), wie stets direkt am See.


Moosbeeren alias Kranbeeren
Moosbeeren alias Kranbeeren


Sonnenuntergang in nordischer Schönheit am Campingplatz von OuluAcht Sterne für einen Campingplatz
Mittwoch, 22. August 2007: Pyhäjärvi - Oulu (175 km)
Oulu ist ein nettes Städtchen. Die Fußgängerzone reicht ins Meer. Leider liegt selbst das günstigste Hotel deutlich über meinem Etat. Ich komm mir reichlich arm vor. Zum Glück gibt es auf einer vorgelagerten Insel einen Campingplatz direkt am Strand. Wenn das gestern ein Vier-Sterne-Platz war, müsste das ein Acht-Sterne-Platz sein. Der dritte Abend hintereinander mit kostenlosem Internet. Nur mein FTP-Programm streikt mal wieder, nachdem es an den letzten beiden Abenden funktionierte. Sonnenuntergang in nordischer Schönheit.


Schweden von Finnland her gesehen: Der  nördlichste Ikea-Möbelmarkt der Welt in Haparanda
Schweden von Finnland her gesehen: Der nördlichste Ikea-Möbelmarkt der Welt


Fahrrad-Brücke in Nord-FinnlandTurning Point: die Spitze des bottnischen Meerbusens
Donnerstag, 23. August 2007: Oulu - Grenze Finnland/Schweden - Kalix (195 km)
Ab Oulu vereinigen sich die Küsten-Straße E8 und die Helsinki-Direktissima, auf der ich die letzten beiden Tage gefahren bin. Sind aber zunächst Schnellstraße. Ich nehme die parallele Küstenstraße, bis ich mich im Shopping-Center-Bereich von Haukapusidas verfahre. Weil einer von vielen breiten Flüssen, die ich heute überquere, weit und breit keine Brücke jenseits der Schnellstraße erkennen lässt, befördere ich mein Radl durch den Zaun. Bedeutet: ein paar Kilometer mehr auf der Schnellstraße.
Es gibt auch Fahrradwege. Breit und ganz ok asphaltiert. Sie enden aber häufig an der nächsten Kreuzung, wo sie meist noch einmal unter der Fahrbahn durchführen, aber nur zur obligatorischen Bushaltestelle. Da gilt es, rechtzeitig wieder auf die Fahrbahn zu kommen. Wozu sich in der Regel die Bushaltestelle auf der andern Seite eignet. Klingt kompliziert, ist es nicht. Sogar gigantische reine Fahrrad-Brücken (Foto links). Was wären die Sudanesen froh über so eine einzige Brücke über den Nil.
Beschildert sind die Radwege nur selten. Die letzten Kilometer zur Grenze zum Beispiel. Da, wo sich Finnland und Schweden in der Spitze des bottnischen Meerbusens berühren. Die beiden Grenzorte Tornio (Fin) und Haparanda (Swe) versuchen sich in Geschwisterlichkeit trotz Währungs- und Zeit-Grenze. Jedenfalls ist das Erste, was man von der finnischen Seite kommend kurz nach dem letzten Lidl sieht: die gelb-blaue Schrift jenes Möbel-Konzerns, der fast zum Synonym für Schweden geworden ist. Der nördlichste Ikea von allen. Gerade eröffnet. Ein Anziehungspunkt bis an die Nordspitze Europas, bis nach Murmansk.

See an der Fernstraße E4 in Nord-SchwedenHaparanda hat noch eine Sehenswürdigkeit: seinen Bahnhof. Für die 10.000-Einwohner-Stadt genauso überdimensioniert wie das Möbelhaus ist der Bahnhof. Im Ersten Weltkrieg wurde der kräftig ausgebaut, weil hier das Rote-Kreuz Austausch von Kriegsgefangenen zwischen Ost und West organisierte. Damit war der Bahnhof auch für den Zweiten Weltkrieg bestens präpariert.
Die Straße in Schweden, jetzt die E4 (die E8 geht weiter nach Norden), ist zunächst schlechter als die in Finnland. Sehr schmal, rauer Asphalt, der in der Fahrspur ziemlich platt gefahren ist. Nach 30 km wird die Straße breiter, der Asphalt neuer, weicher. Obwohl ich jetzt direkt nach Westen fahre, spüre ich immer noch keinen Gegenwind. Verwöhnt vom Wetter seit dem ersten Tag. Auch wenn es heute Morgen noch einmal ein Grad kälter war: 15 Grad. Langärmelige Premiere.
Schön ist auch, dass die Finnen und Schweden einen nicht mit Kilometer-Markierungen am Straßenrand traktieren. Der Frondienst an den zahlreichen Messwerten des Kilometer-Zählers reicht schon.


Straße in Nord-Schweden
Schweden


Bäume in Nord-SchwedenMarathon-Finale: die offene Ostsee-Flanke wird mit Kardamom-Kuchen geschlossen
Freitag, 24. August 2007: Kalix - Boden - Arvidsjaur (225 km)
Wieder ist die Riesen-Etappe am Anfang nur ein ferner Traum. Verbunden mit der Hoffnung, durch das schnelle Ende der Radtour einen Ausflug nach Umea am Wochenende machen zu können. Die tristen Pensions-Räume in Kalix verlasse ich gern. Wenn auch nicht ganz so früh, wie möglich. Am letzten Tag läuft es irgendwie von selbst. Es radelt. Es mag dauern, aber irgendwann komme ich an.
Mittags bin ich eine ganze Weile in dem schönen Örtchen Boden. Die Touri-Info hat einige Infos, die sich gut mit meinen Kopien ergänzen. So schaue ich mir noch das moderne Triptichon der Kirche an. Einst Mittelpunkt einer Siedlung der Samen. Hier sollten sie sesshaft werden.
Weiter auf einer Nebenstraße nach Älvsbyn. Es ist hügelig. Und sonnig. Und schön. Eigentlich auch noch warm. Bei der Tankstelle von Älvsbyn tanke ich nochmal einen dieser kräftigen runden Kuchen mit Kardamom. Mir ist klar: Ich kann es schaffen bis nach Arvidsjaur, meinem kleinen großen Ziel, aber es wird spät, sehr spät werden.
Ich fühl mich gut, ziehe mich etwas wärmer an. Und weiter geht's über kleine und nicht ganz so kleine Hügel. Für den langen Abend der letzten Etappe bekomme ich ein stundenlanges Sunset-Finale am Horizont geboten. Ich muss immer wieder halten, um ein Foto zu machen. Würde am liebsten einen abendfüllenden Film drehen. Die Sonne steht längst über Kalifornien und hier ist sie immer noch zu sehen, zumindest zu erahnen, bildet immer noch einen Lichtfleck am Horizont (Foto rechts und unten).

Dreistündiges Sunset-Finale im Spätsommer bei Arvidsjaur, SchwedenDank meines Nabendynamos bin ich schon den ganzen Tag mit Licht gefahren. Es sind noch einmal 225 km. Es wird spät. 12 Std. 41 Min. reine Fahrtzeit, 15 Std. 15 Min. unterwegs. Mit 1086 die meisten Tages-Höhenmeter der Tour, mit 17,7 km/h die niedrigste Durchschnittsgeschwindigkeit. Ich habe mir wieder einen freien Tag erkämpft.
Der Kreis ist geschlossen um die Ostsee. Ich kann mich entfernt erinnern, Arvidsjaur von der andern Seite kommend kurz eine Stippvisite gewidmet zu haben auf meinem Weg zum Nordkap vor sechs Jahren. Geschockt von der Selbsttötung Hannelore Kohls, von der ich am Abend vorher erfahren hatte. Ich bin bei den Ostsee-Umrundungs-Touren nur wenige Meter direkt an der Ostsee gefahren. Das macht die Umrundung etwas virtuell. Aber die offene Flanke auf meiner Touren-Karte war seit Jahren sehr real. Und ist jetzt geschlossen
Schaue denn auch im einsamen Arvidsjaur, sobald ich mich in einem Hostel einquartiert habe, nach den Umea-Busverbindungen. Treffe am Busbahnhof einen Rucksack-Wanderer. Der klagt darüber, dass wegen Vandalismus neuerdings die Wartehalle nachts geschlossen ist. Ich weise ihn auf mein Hostel hin, aber er geht lieber mit seinem Zelt Richtung See. Morgen um acht fährt der Bus.


Fahrrad von hinten an rotem Holzhaus angelehnt in Schweden
Schweden


Anna Buren bei Sveriges RadioMartas Mannschaft: Umea, die Frauen-Fußball-Hochburg
Samstag/Sonntag, 26. August 2007: Wochenendausflug mit dem Bus nach Umea

Es regnet. Richtig. Der erste Regen seit meinem Museums-Besuch-Regen in St. Petersburg. Ich bin ein Glückskind. Ich bin sooooooooooooooooooooo froh, dass ich gestern Abend durchgefahren bin. Sonst wäre auch aus Umea nicht viel geworden.
Jetzt habe ich eine tolle Bus-Verbindung und bin am Mittag in Umea, wo mich Anna erwartet. Sie habe ich in Palästina 2004/2005 kennengelernt. Sie ist Radio-Reporterin und zeigt mir die Studios von Sveriges Radio P4 Västerbotten, macht ein Interview mit mir. Ich lerne Umea als Hauptstadt des Frauen-Fußball kennen. Die brasilianische Weltfußballerin Marta spielt hier im Sommer. Im Winter ist es hier zu duster. Die Sonne kommt dann nur ganz schwach über den Horizont für ein paar Augenblicke.
Anna und ihre Schwester nehmen mich mit auf einen Sonntags-Ausflug etwas flussaufwärts. Fantastische Landschaft, dazu ein altes, mit Wasserkraft betriebenes Sägewerk. (Die Fotos vom Wochenende gehen leider alle verloren, als wir sie auf Annas Computer laden wollen: der Schreck steht ihr ins Gesicht geschrieben - Foto rechts.)
Ein ganz relaxtes Wochenende zum Ausklingen, Auschillen. Und als meine Rückfahrt fast daran scheitert, dass ich zusätzlich zu meinen EC-/Kreditkarten nicht meinen Ausweis präsentieren kann, wechselt Anna mir noch ein paar Euro. Tak.


SAS-Flugzeug am Flughafen Arvidsjaur wird beladenNimmt SAS mein Radl mit?
Montag, 27. August 2007: Heimflug Arvidsjaur - Stockholm - Frankfurt

SAS wollte nicht garantieren, dass sie mein Radl von Arvidsjaur nach Stockholm transportieren. Die Maschine sei unter Umständen zu klein. So liegt eine kleine Ungewissheit über meinem Rückflug. Doch zuerst regnet es wieder. In der Tankstelle bekomme ich Verpflegung per Kreditkarte auch ohne Ausweis. Dann radel ich in großem Bogen um den See, der sich zwischen Stadt und Flughafen geschoben hat (Foto ganz unten). Im langen Winter bietet eine Eis-/Schnee-Piste eine Abkürzung zum Flieger.
Ganz relaxed wird mein Fahrrad entgegengenommen und ins Flugzeug befördert (Foto links). Nur mein Weiterflug in Stockholm fällt wegen eines technischen Defektes flach. Muss ich ein, zwei Stunden warten. Dann ist es vorbei mit endlosen Straßen, Wäldern, Seen, Holzhäusern und die Frankfurter Skyline begleitet mich auf die Landebahn.


Dreistündiges Sunset-Finale bei Arvidsjaur auf der letzten Etappe bis kurz vor Mitternacht
Dreistündiges Sunset-Finale auf der letzten Etappe bis kurz vor Mitternacht


Route Belarus - Arvidsjaur



Blaue Linie = Touren-Route; Buchstaben = Start und Ziel der Etappen

Etappen Belarus - St. Petersburg - Arvidsjaur (August 2007)

Details mit Geschwindigkeiten, Höhenmetern etc. als Excel-Tabelle

Tag Datum Start Zwischenstationen Ziel km
1. 6.8.2007 Miedzyrzec Podlaski Grenze Polen/Belarus Brest 73
2. 7.8.2007 Brest Pinsk 190
3. 8.8.2007 Pinsk Zhytkavichy 147
4. 9.8.2007 Zhytkavichy
5. 10.8.2007 Zhytkavichy
6. 11.8.2007 Zhytkavichy Babrujsk 190
7. 12.8.2007 Babrujsk Mahiljou 136
8. 13.8.2007 Mahiljou Wizebsk 162
9. 14.8.2007 Wizebsk Grenze Belarus/Russland Pustoshka 156
10. 15.8.2007 Pustoshka Pskow 195
11. 16.8.2007 Pskow St. Petersburg 292
12. 17.8.2007 St. Petersburg
13. 18.8.2007 St. Petersburg Primorsk Wyborg 185
14. 19.8.2007 Wyborg Grenze Russland/Finnland - Lappeenranta - Partakoski Ristiina 161
15. 20.8.2007 Ristiina Mikkeli - Pieksämäki Rautalampi 137
16. 21.8.2007 Rautalampi Pyhäjärvi 163
17. 22.8.2007 Pyhäjärvi Oulu 175
18. 23.8.2007 Oulu Grenze Finnland/Schweden Kalix 195
19. 24.8.2007 Kalix Boden Arvidsjaur 225
Summe 2782

Ziel: Arvidsjaur von oben mit See und Flughafen
Ziel: Arvidsjaur (oben links) mit See und Flughafen (rechts) beim Abflug


Erster Teil
Polen - Belarus

Militärparade, Radioaktivität, Heimatpropaganda
Im schönen Reiche von Europas letztem Diktator

Zur ganzen Tour 36: Belarus - Arvidsjaur (2782 km) Aug. 2007


Eine Variante dieses Textes
und weitere Texte und Fotos
von Chris on the Bike auch in

Fahrradführer Europa per Rad
(6. Auflage 2016)

Fahrradführer Europa per Rad


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