Fahrrad-Bewachung, Kult-Mineralwasser und die Liebe zu Thomas Mann Karfreitag, 18.
April 2003: Kutaissi - Chaschuri / Borjomi (102 km) Der starke
Ostwind vom Abend ist geblieben. Manchmal ganz stark, manchmal stärker.
Fegt mich immer wieder von der Fahrbahn. Wetteronline dokumentiert Windgeschwindigkeiten von
65 bis 90 km/h, genau aus Ost. Dazu bergan. Durch ein schmales Tal, wie
ein Windkanal. Traumhaft schön, aber Horror. Am Ende habe ich die Wahl
zwischen Tunnel und einem lezten Anstieg über den Pass. Meine Wahl ist
klar, aber die Tunnelwächter wollen mich nicht einfahren lassen. Zu
gefährlich. Ich krame mein türkisches Blinklicht heraus, renne in den
schwach beleuchteten Tunnel um von dort aus die Leuchtkraft zu
demonstrieren. Die beeindruckt. Daraufhin kaprizieren sie sich auf mein
Vorderlicht, auf das sich meine Argumentation bisher weniger stützte.
Einerseits, weil es seit dem Halterungsbruch sowieso nur provisorisch mit
Klebeband am Bremskabel befestigt herumschlingert, andererseits, weil es
zuletzt nicht funktionierte. So auch jetzt. Ich streichel noch einmal alle
Kabel, Teile, bitte um einen letzten Versuch: Ein Wunder. Es brennt. Auf
halber Strecke im Tunnel überholt mich ein Allradfahrzeug des
Internationalen Komitee vom Roten Kreuz mit Original Genfer Kennzeichen.
Der Fahrer wirft das Warnblinklicht an und eskortiert mich bis zum
Tunnelende. "You need help or anything?" Sie kümmern sich um georgische
Flüchtlinge aus Abchasien. Auch jenseits des Bergkamms
Gegenwind. Dazu jetzt Kälte. Trotz Abfahrt nach Chaschuri bleibt es bei
einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 12 km/h. All-time-low. Es ist
bitterkalt. Ich entscheide mich für eine Premiere. Lasse das Fahrrad bei
einer Tankstelle. Die beiden Maschinengewehr-bestallten Männer im
Security-Police-T-Shirt wittern ein Geschäft: Für drei Dollar wollen sie
das Fahrrad bis morgen früh zehn Uhr im Auge behalten. Es ist ok. Fahre im
verrauchten Bus 30 Kilometer in den Kurort Borjomi. Das gleichnamige Mineralwasser von dort
galt als das begehrteste der Sowjetunion, ist für mich das beste, das ich
kenne. Seit Kurzem auch in Mainz erhältlich, in Georgien bei jedem
Mütterchen am Straßenrand. Ich entdecke ein neues Hotel: Hotel Borjomi.
Wie die meisten Hotelpreise in Georgien stehen sie in keinem Verhältnis
zum Lebensstandard. Für 22,50 Euro verspricht der Chef zumindest warmes
Wasser. Zumindest in einer halben Stunde. Er arbeitet tatsächlich dran.
Als nach 50 Minuten immer noch alles eiskalt ist, schlage ich vor auf dem
Gasherd einen Topf Wasser zu erhitzen. Wieder Schöpfdusche, diesmal aber
warm. So ist es 22 Uhr als ich zum Entsetzen der Hotelbesatzung in das
stockfinstere Borjomi aufbreche. Irgendwo entdecke ich Licht und sogar
Disco-Sound. Zum Abendessen finde ich mich wieder mitten in einer Feier,
die nach Hochzeit aussieht, aber wie sich herausstellt eine Mischung aus
Polterabend und verschiedenen Geburtstagsfeiern ist. Sängerin und
Keyboard-Mensch spielen mit unglaublichem Lärm "Hava Nagila" und Jung und
Alt tobt dazu in der Mitte des Raumes. Eine junge Frau bringt mir als
Nachtisch ein Stück von der großen Torte, woraufhin mich die Sängerin zum
Tanz bittet und ich mit ihr ins Mikrofon den Refrain "Deli, deli, deli,
delidu" (whatever that means) hauchen darf. Der Bann ist gebrochen. Ich
werde mit verschiedensten georgischen Tanzschritten vertraut gemacht, von
Tisch zu Tisch gereicht, bekomme überall ein Glas vom berühmten
georgischen Rotwein. Leider sind die meisten Männer längst nicht mehr
nüchtern. Davit zum Beispiel. Er lebt als jüdischer Emigrant in Bochum und
spricht so wenig Deutsch wie ich Russisch. Seine nicht-jüdische Nachbarin
will er heiraten und mit nach Deutschland nehmen. Und immer wieder Dada,
alias Tatjana, die Frau mit dem Kuchen. "Yoer veri nise" schreibt sie auf
ihre Zigarettenschachtel. Ich stocke, als sie ansetzt "Ja lubliju..." (Ich
liebe...) und atme auf, als sie fortsetzt "...Thomas Mann". Den liest sie
auf Georgisch und Russisch. |