Tanklastzug-Surfen: Tabubruch nach 75.000 Kilometern
Samstag, 6. März 2010: Nagara Chehib [+6 km] - Gonder
(103 km)
Drei Mal kräht der Hahn. Direkt
über meiner Plastikfolie. Nachdem die Hühner drei Mal in der Nacht runter
geschissen haben. Nach dem dritten Mal gegen 4:30 Uhr
öffnet sich die Wellblechtür. Mutter Derssi ist die erste, die
aufsteht. Sie öffnet auch das Gestänge nach draußen, stellt eine Schale
mit Wasser nach draußen. Ich mache mir keine Illusionen. Mein Schlaf ist
beendet. Endlich die Chance, früh loszukommen. Kurz vor fünf sitze ich
auf dem Rad. Derssi will partout nichts annehmen als Dank, außer meiner
Visitenkarte. Ich winke in der Dunkelheit zurück. Es ist 18 Grad. Angenehm
frisch. Nur meine Kräfte sind nicht frisch. Irgendetwas in mir will nicht,
kann nicht. Es geht weiter auf und ab. Nur ohne meinen Körper. Sobald ein
Anstieg kommt, brauche ich alle 50 Meter eine Pause. Selbst beim Schieben.
Ich nehme den Rucksack auf den Rücken, um das Rad leichter schieben zu
können. Hilft nichts. Ein Junge läuft eine Weile neben mir her. Schiebt
aus Mitleid das Rad von hinten mit. Bei mir herrscht pure Verzweifelung.
Ich fühle mich genau so, wie zu dem Zeitpunkt als ich in China auf 4.000
Meter Höhe die Karakorum-Tour beendet habe. Und danach noch tagelang zu
nix in der Lage war. Und jetzt bin ich auf 1.500 m. Wie soll ich jemals
nach Gonder kommen? Die Versuchung naht in Form von Tanklastzügen.
Mehrere. Auch sie ächzen schwerfällig den Berg hinauf. Oh, brothers, nach
rund 75.000 Tour-Kilometern bricht meine innerste Firewall.
Kurzentschlossen schwinge ich mich aufs Rad. Trete es ein wenig in
Schwung. Und ergreife dann mit der Linken eine Halterung am Führerhaus,
die für Fahrradfahrer geschaffen sein muss. Ein kurzer Ruck im Arm, ein
kleiner Schlenker nach rechts, ich trete mit etwas Energie nach und schon
schiebt der LKW mich mit genau 7 km/h den Berg hinauf. 30 Jahre hab ich
der Versuchung widerstanden. Und jetzt ist es göttlich. Einen winzigen
Ticken schneller, als ich gewöhnlich selbst fahren würde. Mein junger
Begleiter hält locker mit. Der junge Beifahrer signalisiert, dass der
LKW-Fahrer nicht begeistert ist. Ich stell mich dumm. Und kann mein Glück
kaum fassen. Es läuft. Es sind nur wenige hundert Meter und sehr viel
weniger als hundert Höhenmeter. Bis die Steigung ein bisschen flacher wird
und der LKW-Fahrer mit deutlichem Hupen eine letzte Warnung ausstößt. Ich lasse
los. Und kann wieder radeln. Trampeln. Langsam, aber stetig. Meter für
Meter spüre ich wieder neue Kraft. Muss noch ein, zwei Mal pausieren, fahre
noch einmal 20 Höhenmeter an einem LKW mit. Das ist überflüssig. Es
läuft wieder. Mit einem ganzen Pulk von Menschen, die kilometerweit zum
Markt im nächsten Ort unterwegs sind, erklimme ich den Pass. Der nie enden
will. Bis auf 2.200 m. Und bei 5,5 km/h halten die Mädchen mit ihren fünf,
sechs Papayas oder lebenden Hühnern in Plastiktüten über die Schulter
geworfen locker mit. Als ich in Seraba ankomme, gönne ich mir eine Pause. Und
bin doch voll bei Kräften. Bloß nicht wieder überfordern. Als ich gerade
wieder aufbrechen will, marschiert ein langer Trauerzug durch den Ort.
Links und rechts eskortiert von weit über hundert Soldaten. Ein Soldat ist
bei einem Autounfall gestorben und wird jetzt in einem grünen Sarg zum
Grab geleitet. Sogar die meisten Kinder hören für einen Moment auf, mich
mit "you, you, you" zu traktieren. Oder mit:
"Where are you go?" Die Frage lässt viele Antworten zu. Die Kinder sind
keineswegs so aggressiv und aufsässig, wie ich es noch kurz zuvor in
den Schilderungen anderer Radler gelesen hab. Ich versuche, so weit möglich,
auf die Kids einzugehen. Auch, damit sie nicht auf die Idee kommen, Steine zu
werfen. Singe manchmal aber auch einfach "You, you are always on my mind.
You, you're the one I'm living for." Es dauert bis 20 Kilometer vor Gonder, bevor
Jugendliche, die anfingen mit "you banana" gefolgt von "you money" und
"you give me t-shirt" - ich bin kein Altkleidercontainer - schließlich
Steine werfen. Und das ist ein Kawemmsmann, der - an der falschen Stelle
getroffen - einigen Schaden anrichten kann. Es folgen kleinere Steine.
Hier auf rund 2000 Metern wird es
mittags im sonnigen Fahrtwind nur 42 Grad und nicht wie an den letzten
Tagen 45 Grad. So muss ich keine extra Hitze-Pause machen. Erstaunlich
wie unermüdlich die Kinder mithalten. Auch bergauf halten sie locker zehn
Stundenkilometer eine Zeit lang mit. Wenn sie mich von Weitem kommen sehen,
scheuen sie keinen noch so großen Acker, um zu versuchen, mich noch an der
Strecke mit "you, you, you" auf sich aufmerksam zu machen. Wenn man das
mit der Behäbigkeit vieler Kinder in Europa vergleicht... Viele Kleidungsstücke stammen unverkennbar aus Altkleidersammlungen in Europa. Abstruse
Spitze ein womöglich nie in Deutschland getragenes T-Shirt mit der
Aufschrift "CDU Hagen" in Blau auf Orange. Da bin ich schon in Azezo, im
richtigen Äthiopien. Von den 190 Kilometern bis zur Grenze sind nur zwei
Kilometer (noch) nicht asphaltiert. Eine Revolution für alle
Afrika-Overlander. Feinster Asphalt, der mich bergab bis auf eine Geschwindigkeit von 75 Stundenkilometern bringt.
Die restliche Strecke auf der Hauptstraße nach Gonder ist älter und an
vielen Stellen marode. Viel befahrener. Am Ortseingang hängt sich ein
Jugendlicher auf seinem Fahrrad an mich, eskortiert mich zur Pension
Belengez, von der der Führer nicht verrät, wo sie ist. Sie erweist sich als
genau die Unterkunft, von der man an solchen Ort träumt: zentral, klein,
fein, sauber, ein Traveller-Treff, ein kommunikativer Innenhof. Mit
Atmosphäre. Nach zwei Crash-Record-Nächten ein richtiges Bett. Und zu
waschen habe ich auch genug. |