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VG WORTTour 51: Khartum - Addis Abeba (1760 km)


Start an den Pyramiden von Meroe, Bajarawiya, Sudan
Start an den Pyramiden von Meroe, Bajarawiya, Sudan

Bike-Blog & Routen-Karte & Etappen-Übersicht
Khartum - Addis Abeba (1.-19.3.2010)
Mit running kids im äthiopischen Hochland

Ausrüstung: Bike & More
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Bike & More
Eigentlich sollte es gleich durch nach Nairobi gehen. Doch Hitze jenseits der 40 Grad, 12.000 Höhenmeter in Nord-Äthiopien, die Schlucht des Blauen Nil fordern ihren Tribut. Und die Kinder. Die leichtfüßig über die Äcker springen und barfuß neben dem Fahrrad laufen, als trüge sie mein Fahrtwind. Die genauso athletisch Steine werfen, am Gepäck zerren und mich zu Fall bringen. "Lasst uns laufen! Lasst uns vergessen, was hinter uns liegt. Es ist noch alles Zukunft. Es sind noch alle Möglichkeiten des Lebens offen..."
Karl Rahner (1954)

Die Tour bei YouTube


Äthiopischer Jugendchor


Uphill-Radln mit Kids


Externe Bus-Beschallung


Give me this money!




Ortlieb-Satteltaschen zusammengeklebt für Ethiopia Airlines am Frankfurter FlughafenNicht locker genug
Freitag, 26. Februar 2010: Flug Frankfurt - Addis Abeba

So einen großen Fahrrad-Karton hatte ich noch nie. Und das Rad passt doch nicht rein. Der Lenker lässt sich nicht runter bringen, muss das Vorderrad ausgebaut werden. Die vom Fahrradhändler extra vorgelösten Pedale bekommen auch die Haudegen vom Bulk-Luggage Service nicht locker.
Am Ende ist irgendwie alles doch im Karton, der aber etwas ausgebeult. Rekordpreis: Ethiopian Airlines kassiert 110 Euro für das Fahrrad oneway. Für meine dritte Radtasche soll ich auch noch extra zahlen. Das ist ja schlimmer als Ryan Air. Binde ich die beiden Ortlieb-Satteltaschen eben mit Tesa-Film zusammen. Sind sie nur noch ein Gepäckstück.
Ich habe den letzten Platz in der Boeing 767-300. Viele, viele Deutsche im Flieger, aber niemand fliegt nach Äthiopien. Die Ossi-Gruppe will in sechs Tagen auf den Kilimanjaro (5895 m) rennen. Ein GTZ-Mitarbeiter kehrt nach Ruanda zurück. Mein nigerianischer Nachbar in seine Heimat. Und Ethiopian Airways hat die günstigsten Tickets. In meinem Fall Hinflug nach Khartoum und Rückflug von Nairobi für supergünstige 450 Euro. Jeweils über Addis Abeba.
Wir fliegen durch die Nacht und ein bisschen schlafe ich. Vor allem verabschiede ich mich wie meist von Deutschland, indem ich mich durch einen Rundumschlag an Zeitungen und Zeitschriften kämpfe.


Äthiopisch-orthodoxer Jugendchor vor der Georgs-Kathedrale in Addis Abeba
Äthiopischer Jugendchor vor der Georgs-Kathedrale, Addis Abeba


Der äthiopische Jugendchor in Aktion


Welcome to Running Ethiopia, Addis AbabaSonnenbrand-Akklimatisierung auf über 2000 Meter
Samstag, 27. Februar 2010: Addis Abeba - Flug - Khartum

Der erste von drei geplanten Aufenthalten in Addis Abeba (eigentlich Addis Ababa) auf dieser Reise. Mit meinem Multiple-Entry-Visum können es auch noch mehr werden.
Die Landung ist um sieben Uhr, der Weiterflug nach Khartum erst am späten Abend. Schlafe erst mal auf einer Bank im Immigration Bereich weiter. Es soll ja vor allem ein Akklimatisierungstag auf über 2000 Metern Höhe sein.
Es ist ziemlich bewölkt. Angenehme gut 20 Grad. Und die drei-, vier- oder fünf-Millionen-Stadt erstaunlich unstressend. In den äthiopischen Horrorberichten anderer Radler, die ich in den vergangenen Tagen verstärkt konsumiert habe, kommen zwar die Städte besser weg als das Land. Aber mit so wenig Bettlern hab ich nicht gerechnet.
Als ich durch eine Wellblech-Siedlung streife, wo die Kinder auf der Durchgangsstraße mit Plastikresten Fußball spielen, werde ich zwar auch dezent nach Geld gefragt, vor allem aber freundlich begrüßt. Vor einem etwa 40 Jahre alten VW Käfer bleibe ich ehrfürchtig stehen. Und werde so gleich als Deutscher taxiert.
Je näher ich dem Mercator komme, dem - laut Führer - größten Markt Afrikas, desto enger wird der Menschen-, Esel-, Waren- und Fahrzeug-Strom. Drehe ich ab Richtung Große Moschee. Die Händler sind klassischer Weise Muslime. Neben der obligatorischen Hand- und Fußwasch-Anlage stehen Schlangen vor einer unübersehbaren Anzahl von Klos und Pissoirs. Ich wollte ja auch nur die Hände waschen. Die Moschee ist brechend voll zum Mittagsgebet.
Eine Anhöhe - und einen Jeep von "Menschen-für-Menschen", der Hilfsorganisation von Karl-Heinz Böhm - weiter steht die Georgs-Kathedrale. Sie ist leider wie alle anderen äthiopisch-orthodoxen Kirchen, die ich passiere, geschlossen. Was die Gläubigen nicht davon abhält, rings um die Gotteshäuser zu stehen und beim Gebet das Gebäude ehrfürchtig von außen zu berühren.
Im Foyer des Hilton mache ich ein weiteres kleines Nickerchen. Um dann mit dem Mini-Bus für umgerechnet zehn Euro-Cent zurück zum Flughafen zu fahren.
Kurz vor Mitternacht macht der Flieger von Addis nach Kairo eine Zwischenlandung in Khartum. Bald tauchen auch die geballten Satteltaschen auf. Und der Riesen-Karton mit dem Fahrrad. Ein Pedal schaut etwas vorlaut heraus. Alles ist vollständig und heil. Und bald funktionsfähig. Der Flughafen liegt am Rand des Stadtkerns. Es ist für eine Millionenstadt reichlich leer. Als ich mich einem bewachten staatlichen Gebäude nähere, um nach dem Weg zu fragen, werde ich auf Abstand gehalten.
Die Jugendherberge hat mailmäßig nicht reagiert und keinen Telefonhörer abgehoben. Holper ich über sandige Straßen durch die Innenstadt und bleibe beim Hotel Dubai hängen. Inzwischen macht sich ein Sonnenbrand bemerkbar. Es gab zwar kaum Sonne in Addis, aber das eben auf über 2000 Metern.


Wellblech-Hütten-Siedlung in Addis Abeba, Äthiopien
Wellblech-Hütten-Siedlung in Addis Abeba


'Gaddafis Ei': der Hotelturm Burj Al Fateh in Khartum, SudanSudanokratie: "Allien Registration" im dunklen Hinterzimmer
Sonntag, 28. Februar 2010: Khartum - Bus - Shendi - Bus - Meroe

Das Hotel Dubai hat ein beachtliches Frühstücksmenü, aber niemand im Hotel weiß, wo ich mich genau registrieren lassen kann. Innerhalb von drei Tagen muss sich jeder Ausländer staatlich registrieren lassen. Und so cruise ich durch Khartum von Straße und zu Straße und werde in alle Himmelsrichtungen mindestens einmal geschickt. So kann ich mir zumindest das inzwischen fertig gestellte 80 Millionen Dollar teure Hotel Burj Al Fateh anschauen (Foto links). Es erinnert an den Burj Al Arab von Dubai, erbaut von einem libyschen Staatskonzern und daher vom Volksmund "Gaddafis Ei" getauft.
Ein Mann im Reisebüro verrät mir letztlich die ungefähre Richtung. Und mit noch ein paar Mal Nachfragen finde ich den unscheinbaren Eingang zur "Allien Registration". Es ist high noon. Menschen aus Barbados, Kanada, Nigeria, Indien wollen der Registrier-Pflicht nachkommen. Langsam erschließt sich der Ablauf. Erst Pass samt Visum kopieren. Die Kopie, die ich default-mäßig im Gepäck hab, nützt nichts. Das Visum muss mit dem Einreisestempel kopiert werden. Kostet ein sudanesisches Pfund. Das Formular fünf Pfund. Ein Passfoto hab ich zum Glück dabei. Aber keine Bescheinigung eines Sudanesen, der für mich bürgt. Ich kenne halt auch keinen Sudanesen persönlich. Dann bräuchte ich eine Bescheinigung meines Hotels, heißt es.
Ich entscheide mich zwischen der Behauptung, ich würde zelten, und der Möglichkeit, meine Hotelrechnung anzuheften, für Letzteres. Darauf kommt nach einigen Minuten vermutlich zum einzigen Mal am heutigen Tag einer der Oberregistrierer aus den dunklen Hinterzimmern raus an die Glasfassade zum Hof, wo die Registrier-Willigen warten. Um mir zu erklären, dass die Hotelrechnung nicht ausreiche. Leicht genervt radle ich zum Hotel zurück. Dort will man nur das Registrierformular stempeln, aber nicht unterschreiben und nichts schreiben. Ich laber und laber. Schließlich schreiben sie handschriftlich eine Bestätigung, dass ich in dem Hotel wohne, was eigentlich nur noch mein Gepäck macht.
Zurück an der Glasfront sagt man mir, die Bestätigung müsse maschinenschriftlich sein. Ich behaupte, das Hotel habe weder Schreibmaschine, noch Computer, noch Drucker. So lässt man Gnade vor Recht walten und ich habe nach drei Stunden Schwerstarbeit und 33 weiteren sudanesischen Pfund (11 Euro) meine Registrierung im Pass. Zurück im Hotel erklären sie mir, dass der Drucker derzeit nicht drucken können. Meiner zu Hause auch nicht.

Pharaonen und Pyramiden

Es geht los. Nachdem ich am Morgen unter den Einwirkungen des Sonnenbrands noch entschlossen war, auf einen Schlenker in den Norden zu den Pyramiden von Meroe zu verzichten, um direkt Richtung Äthiopien zu fahren, habe ich zwischenzeitlich innerlich umgeschwenkt. Die Wüste ruft.
Über den Blauen Nil radle ich nach Khartum Nord zur Bushaltestelle. Wo ich sogleich zum Liebling aller Buskarten-Verkäufer werde. Offenbar konkurrieren mehrere Firmen auf der gleichen Strecke. Was dazu führt, dass ich nichts so richtig rausfinde. Ich entscheide mich bzw. werde entschieden für den Bus nach Shendi, auch wenn Meroe noch ein paar Kilometer weiter liegt.
Schon ist mein Rad auf dem Dach und ich sitze neben einer dezent geschminkten Computer-Studentin mit Kopftuch. Sie spricht zwar sehr wenig Englisch, das aber mit großer Leidenschaft, Freude und Sympathie. So vergeht die Wartezeit halbwegs, bis auch der letzte Sitzplatz im Bus verkauft ist.
In Shendi radle ich zurück zur Überlandstraße, wo ich mit Taxifahrern über die Fahrt nach Norden verhandle. Ich unterbreche die Verhandlungen, als in der Dunkelheit ein Bus hält. Jepp: der fährt weiter nach Norden. Ein Dachgepäckträger fehlt, die Gepäckfächer sind zu klein. Schlage ich vor, Fahrrad und Taschen in den Mittelgang zu stellen. Alle sind sofort einverstanden. Und ich sitze davor im Gang.
Irgendwo in der Dunkelheit werde ich rausgeworfen. Das Dorf Bajarawiya (Begrawija; Bagrawija) liegt hier in der Ferne am Nilufer. Ein, zwei Kilometer weiter meine ich schemenhaft am Rande eines Gebirges, Pyramiden in der bewölkten Vollmondnacht zu sehen. Über Stock und Stein radle ich dorthin. Tatsächlich. Pyramiden, die noch reichlich im Sand stecken. Und inzwischen eingezäunt sind.
Am Rande des Zaunes stelle ich das Zelt in den Sand. Als das Gepäck eingeräumt ist, kommt ein Soldat des Weges: out of the dark plötzlich into the light meiner Stirnlampe tretend, fragt er, ob alles "Tamam" (ok) sei. Ist es. Dann dürfe ich noch 25 Pfund (8,50 Euro) zahlen. Wohl das vorweg genommene Eintrittsgeld. Bilde ich mir ein. Und sitze dann mit Blick auf Zelt, Pyramiden und Mond an meinem Netbook. Pharaonisch.
Give me the best of everything. Set to a symphony of moonlit skies. Sometime our wishes do come true. And when I need you, you’ll be there - beside me. (Heather Bond: Beside Me)


Guten Morgen, Pharaonen: Zelt, Rad und Pyramiden in Meroe, Bajarawiya, Sudan
Guten Morgen, Pharaonen: Zelt (Danke, Daniela!), Rad und Pyramiden in Meroe


Pyramiden des königlichen Nordfriedhofs von Meroe begrüßen das MorgenlichtAm größten Pyramidenfeld, wo gibt
Montag, 1. März 2010: Meroe - Shendi - Khartum (231 km)

Morgendliche Pyramidenwanderung. Keine Fußspuren im Sand. Eine Totenstadt (Foto rechts). Die Totenstadt der schwarzen Pharaonen. Der nubischen Pharaonen in ihrer Hauptstadt Kusch zwischen 592 und 350 v.Chr. Aufgeteilt auf zwei Hügel. Ausgerichtet auf die aufgehende Sonne. Die sich schließlich zwischen den Wolken durchsetzt.
Beim anschließenden Frühstück am Zelt kommt der Guard vorbei. Sehr nette Unterhaltung. Ohne mir irgendetwas aufdrängen zu wollen. Im Hintergrund bevölkern weitere Locals die Pyramidenstätte. Ob noch andere Touris heute kommen?
Bei der Suche nach der Tempelstadt entdecke ich ein weiteres Pyramidenfeld auf der andern Seite der Straße. Weniger spektakulär. Hier sollen Adelige begraben sein. Alles in allem rund hundert Pyramiden. Mehr gibt es nirgendwo auf diesem Globus an einem Fleck.
Nur durch Fragen finde ich die Piste zur Tempelstadt direkt hinter der Eisenbahnlinie. Ein großes Areal. Hier muss ich nun 20 Pfund zahlen. Der Wärter verdammt meine Zahlung an den Soldaten. Nur zu sehen gibt es hier kaum etwas. Die beiden Thermen sind abgeschlossen. Ansonsten stehen ein paar Grundmauern.
Ich schlage mich zurück zur Straße und hänge mich in den Nordwind. Ich fliege über die sanfte Ebene. Rechts das grüne Band des Nil. Bei Shendi will der Wind nicht mehr so recht. Es ist heiß. Zeit für eine Mittagspause. Linsen und Reis kann ich in den Küchentöpfen entdecken (Foto links).

Reis und Linsen: Mittagspause an der Abzweigung nach Shendi Busse und Sattelschlepper überholen mich. Letztere standardmäßig mit elf Achsen. Wie Road trains. Ich zähle die Achsen jedes Mal mit und rechne hoch, ob ich mich auf dem Asphalt halten kann. Der Rückenwind ist längst wieder eine gute Stütze. Kurz vor Sonnenuntergang könnte ich ein neueres Hotel anlaufen. Aber ich will zurück nach Khartum. Der Ausflug in den Norden ist eh ein Luxus, den mein Zeitplan kaum zulässt. Die Sonne belohnt mit einem Traumuntergang (Foto Ausrüstungs-Seite ganz oben).
Life can be a mistery. So let's just take each day and kiss the sun. We live, move on, be what we become. And with each step I want you there - beside me. (Heather Bond: Beside Me)
Die Kilometer-Angaben meiner Reiseunterlagen und der Leute sind sehr widersprüchlich. Noch 30, 40, 70, 100 Kilometer? Ich mache mal wieder Pause an einem Truckstopp. Zwischen den Sattelzügen zwänge ich mich zu einem Stand. Die LKW-Fahrer vergnügen sich mit einer albernen Comedy-Show. Ich genieße Malz-Bier, Joghurt, Limo, Omelette. Gehüllt in Weihrauch-Duft.
Unmittelbar hinter der Raststätte ein Abzweig, nur in Arabisch beschriftet. LKW werden hier ostwärts umgeleitet. Das macht meine Fahrt angenehmer. Die Stirnlampe leuchtet den Weg, die Fahrradlampe dem Gegenverkehr. Die Strecke zieht sich länger als erwartet. Am Ende ist es die viertlängste Etappe ever für mich.
In den Vororten des nördlichen Khartum lockt mich eine "Tasty Drinks"-Bar. Statt Mango- oder Orangensaft bietet man mir "Madita" an. Süß, süffig, kühl. Der Kassierer ist noch etwas enttäuscht, dass vor wenigen Tagen eine Radlergruppe auf seine Einladung hin nicht angehalten hat. Ich versuche etwas über den Rhythmus beim Fahrrad fahren und die Gastfreundschaft im Sudan zu sagen. Er hat einige Jahre in den USA gelebt. In Newark bei New York sei er am frühen Morgen im Park mit Waffengewalt überfallen worden. Im Sudan undenkbar. Viel "Madita" trinke ich nicht.
Es ist nicht mehr weit. Wie vorgestern erreiche ich gegen ein Uhr das Hotel Dubai. Die Mannschaft ist komplett ausgetauscht. Das Zimmer das selbe.


Meroe-Pyramiden: vom Wind gezeichnet und vom Mensch 
      gemeißelt, Sudan
Meroe-Pyramiden: vom Wind gezeichnet und vom Mensch gemeißelt


Am Blauen Nil nach Süden
Dienstag, 2. März 2010: Khartum - Wad Madani (193 km)

Das Frühstücksbuffet ist mangels Gäste reduziert. Dafür bekomme ich ein Omelette handmade. Ich aktualisiere meine Homepage am Computer im Frühstücksraum. Dabei wird der Stick gleich von einem Wurm befallen, der sich kurz danach auf meinem Laptop ausbreitet und jeden weiteren Stick-Gebrauch unmöglich macht. Nun ja, Firewall und Virenschutz waren auf dem Netbook nicht installiert.
Nach dem Sonnenbrand aus dem nicht-sonnigen Addis Abeba im Nacken, folgten gestern die Arme. Meine Nivea-Creme geht zur Neige. Die ist auch in Khartums Drogerien und Pharmazien bekannt, aber nicht erhältlich. Ersatzweise entscheide ich mich für "Glyzerin", das leider nicht von der Haut komplett aufgesogen wird. Heute kommt ein Sonnenbrand auf den Handrückenflächen dazu. Ich strampel der Sonne entgegen.
Fahrrad-Liebhaber säubert sein Rad vom Wüstenstaub in der sudanesischen Sahara Die Ausfahrt Richtung Süden ist bis auf eine Ecke unbeschildert, aber nicht allzu schwer zu finden. Ich folge dem Mainstream. Und dem Wind. Der Verkehr ist etwas stärker als gestern. Aber im Rahmen. Die Straße zweispurig ohne Seitenstreifen. Monumental bei Rufaa plötzlich ein hochmodernes Autobahnkreuz mit einer nagelneuen Brücke über den Blauen Nil Richtung Osten. Auf dem grünen Schild von "Exit 3" ist allerdings nur die Stadt Rufaa beschildert, an der ich grad vorbeiradle.
Im Nachmittagslicht spielen die Jungs Fußball im Wüstenstaub, den ein Fahrradophiler von seinem liebevoll geschmückten Sudan-Rad wischt (Foto links). Es ist längst wieder einige Stunden dunkel, als ich Wad Madani (auch Wad Medani) erreiche. An der Nil-Promenade stehen die besten Hotels. Das Nil-Hotel wirkt leer, leb- und trostlos. Im Continental bekomme ich ein besseres Zimmer fürs gleiche Geld. Und die Atmosphäre rundherum ist sehr viel lebendiger.


Backstein-Bäcker am Nil bei Wad Madani, Sudan
Backstein-Bäcker am Nil bei Wad Madani


Laban weckt Leben
Mittwoch, 3. März 2010: Wad Madani - Gedaref (237 km)

Nach den beiden langen Fahrten lasse ich es heute morgen wieder langsam angehen. Leider kann man an der Nil-Promenade nicht so richtig schön frühstücken. Sie wird grad Richtung Norden ausgeweitet. Vielleicht dann da. Auch fototechnisch ist der lange, breite Fluss und die gegenüberliegende Sandbank keine echte Schönheit. Ich mache schließlich Bilder von der Nil-Brücke über die Backstein-Bäcker hinweg auf Fluss und Stadt im Grünen. Was sofort Soldaten herbeiruft. Ich zeige ihnen das (letzte) Bild (Foto oben) und alles ist ok.
Chris on the Bike: Abtrennbare Hosenbeine als Armschoner gegen die Sahara-Sonne Die Strecke verläuft heut im Gegensatz zu allen andern der ersten Woche mehr von West nach Ost als von Nord nach Süd. Trotzdem läuft es gar nicht schlecht und am Nachmittag dreht sich der Wind noch ein Stück weiter Richtung Osten. Genial. Trotz Hitze. Nachdem ich gestern auch noch meine Handrücken verbrannt habe, nutze ich jetzt die Hosenbeine als Arm- und Handschoner (Foto rechts).
Zum Glück höre ich - auch dank wenig Verkehr heute - wie ein Metallteil vom Gepäckträger auf den Asphalt fällt. Der Korb hat sich selbstständig gemacht. Wie durch ein Wunder liegt eine Mutter noch auf dem Gepäckträger-Gestänge (Foto Ausrüstungs-Seite). Die Orte auf der Karte bleiben leider Fatamorganas. "Mighred" heißt zwar auch der lange Wald, der vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR entlang der Straße angepflanzt worden ist, er verdichtet sich aber nirgendwo zu einem richtigen Ort, wie es auf der Karte scheint. Ich lechze nach etwas Kaltem, Nahrhaftem. Vor meinen Augen entfalte ich das Bild einer gut klimatisierten Lidl-Filiale. This is killing me softly.
Als die Sonne nach 140 Kilometern untergeht, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, die restlichen 90 Kilometer bis Gedaref durch die Nacht in Angriff zu nehmen. Auch wenn der Polizist am zweiten Checkpoint (der erste kommt samt Registrierung direkt hinter der Provinzgrenze) mir im Vorbeifahren zuruft: "Time to sleep." An den Ständen eine weitere Aufforderung der Leute. Ich könne auch bei der Polizeistation schlafen. Ich bin auch schon reichlich erschöpft. Aber Laban (heiße Milch) mit Zucker, weckt neues Leben.
Die letzte kleine Raststätte 43 Kilometer vor Gedaref. In der Ferne seh ich schon die Lichter. Über die riesige Entfernung. So klar ist die Luft und die Nacht. Die Lichter wollen partout nicht näher kommen. Es sind schließlich doch noch 50 Kilometer, an deren Ende ich mit Hilfe halb schlafender Rikscha-Fahrer (und nicht mit Hilfe des leider mal wieder ungenauen Bradt-Rreiseführers) das polizeilich bewachte Hotel finde. Der wie in Ägypten offiziell festgesetzte höhere Ausländer-Preis mit 50 US-Dollar ist ziemlich hoch angesetzt. Ohne Frühstück, ohne zweites Betttuch, ohne heißes Wasser, alles verdreckt, heruntergekommen obwohl neu.
So wasche ich um zwei Uhr morgens meine Wäsche kalt. Die nächsten Nächte werden voraussichtlich sehr viel weniger komfortabel. Zumal mich meine drittlängste Etappe ever mit ihren 237 Kilometern ziemlich ans Ende meiner Kräfte gebracht hat. Und mein Körper ist trotz kalter Dusche immer noch heiß, heiß, heiß.
Beside me the days will go the nights will come, and in the end I want someone to read my mind, to know my heart, to show me love right from the start. (Heather Bond: Beside Me)


Bäume am Felshang bei Mighreb, Sudan
Bäume am Felshang bei Mighreb


Im Suq von Gedaref, SudanHimmlischer Himmel: der Schlauch hält die Luft an
Donnerstag, 4. März 2010: Gedaref - Gallabat [-13 km] (146 km)

Frühstück im belebten Suq (Foto links) von Gedaref (auch Gadaref; Al Gadaref; Al Qadarif). Tomaten mit einer Art Parmesankäse, Brot, Milch. Und wieder umgeben von Weihrauch-Duft.
Es ist naturgemäß nicht mehr sehr früh und schon elendig heiß, als ich über die alte Ausfallstraße Richtung Grenze radle. In der Stadt ist die Straße immer wieder blockiert. Womöglich um sie zu erneuern, aber auch um den Verkehr auf die neue Umgehungsstraße zu verlegen.
Schon hält mich ein Motorradfahrer in Zivil an: "Immigration. Passport." Ich frage erst mal nach seiner Identität. Sein kleines rein arabisches Plastikkärtchen unterstützt er schnell, indem er unter seinem Hemd die Knarre aufblitzen lässt. Ok. Als ich endlich den Ortsausgang erreiche, brauche ich schon wieder reichlich Getränke. Wieder sind die Michael-Ballack-Fans nicht weit, sobald ich meine Herkunft preisgebe. Hier durchsetzt von Oliver-Kahn-Bewunderern. 2002 ist unvergessen.
Ich bin reichlich fertig. Und es ist heiß. Bald zeigt mein Bike-Computer wieder mehr als 40 Grad an. Schon nach wenigen Kilometern, es ist eh schon Mittag, lege ich mich in einen trockenen Betondurchlauf unter die Fahrbahn. Ich kann nicht schlafen, nur dösen. Schönster Moment: als ich aufbreche, schreitet ein Mädchen würdevoll ihrer Kuhherde voran an einer Seite des Durchlaufs vorbei.
Als es plötzlich ratscht und schabt an den Rädern halte ich sofort an. Finde aber zunächst nichts. Bremsen, Schaltung, Mäntel alle berührungsfrei, alle ok. Mehr zufällig entdecke ich dann: ein Draht steckt im Hinterrad und kratzt am Schutzblech. Langsam ziehe ich ihn aus dem Schwalbe Marathon Plus. Knapp ein Zentimeter Draht kommt zum Vorschein. Ich halte die Luft an. Der Schlauch auch. Glück gehabt.
Die Infra-Struktur ist dünner als erwartet. Ich brauche Brauchwasser. Halte an einem Dorf. Bewege mich zu einer der Rundhütten. Eine arme, flachstbrüstige Frau gibt mir gern.
Es wird dunkel und ich fahre weiter: der vierte Abend hintereinander. Das sudanesische Sicherheitsgefühl und die angenehmeren Temperaturen, aber auch das Wissen um den knappen Zeitplan tragen dazu bei. Am Ende bin ich 270 von 820 Kilometern im Sudan bei Nacht gefahren. Jede Pause bringt auch heute die Versuchung zu bleiben. Doch der Lärm einer sinnfreien amerikanischen Wrestling-Sendung mit arabischen Untertiteln zerstört an den Rastplätzen die Atmosphäre. Und draußen lockt der unendliche Sternenhimmel. Der immer noch recht volle Mond geht heute noch eine Stunde später auf.
Ganz zum Grenzort will oder kann ich dann doch nicht. Am Wegesrand sondiere ich einen Schlafplatz. Bevor ich das Zelt aufbaue, entdecke ich Dornen. Verzichte auf das Zelt und lege mich auf meine Iso-Matte unter den himmlischen Himmel.


Nachtlager am Straßen- und Feldrand im Sudan, 13 Kilometer vor Gallabat
Letztes Nachtlager im Sudan, 13 Kilometer vor Gallabat


Welcome to Ethiopia: Zwei Radler begrüßen mich bei Metema mit LandesflaggeSudanesische Grenzer und die zionistischen Stempel im Zweitpass
Freitag, 5. März 2010: Gallabat [-13 km] - Grenze Sudan/Äthiopien - Nagara Chehib [+6 km] (108 km)

Gegen drei Uhr nähert sich ein Schafherde mit Begleitung meiner Schlafstätte. Aufgrund der klaren Luft ist die Entfernung schwer einzuschätzen. Sicher ist nur, sie verringert sich. Es ist erstaunlich, was die Tiere in den anscheinend völlig vertrockneten Pflanzen Nahrhaftes finden. Langsam bewegt sich die Herde voran. Ich stehe mal auf. Ohne viel zu erkennen. Aber von nun an vergrößert sich die Entfernung wieder. Und ich schlafe weiter.
Soldaten stöbern mich auf, als ich mich grad erhoben habe. Sie sind nicht begeistert von meiner Schlafplatzwahl. Eine kleine Fachsimpelei über Ballack, Kahn und Klinsmann entspannt die Atmosphäre.
Schneller als erwartet bin ich an der Grenze in Gallabat (auch Qallābāt, al-Qallabat). Die Abfolge der Grenzabfertigung ist nicht ohne Weiteres ersichtlich. Ein junger Mann versucht sich als Guide. Er sei quasi im staatlichen Auftrag für offiziellen Geldwechsel zuständig. Ach was. Ich habe wenig Hoffnung für ihn, weil ich kaum noch sudanesische Pfund, aber reichlich äthiopische Birr von meinem Zwischenstopp in Addis Abeba habe. Er berichtet von zwei Franzosen, die schon am frühen Morgen über die Grenze seien. Aber es ist immer noch vor acht Uhr.
Jedenfalls muss ich zurück vom Zoll zur "Security". Wohl sowas wie der Geheimdienst. Jedenfalls der schwierigste Teil. Und sie fragen nach meinem äthiopischen Visum. Das befindet sich in meinem Zweitpass. Und der enthält einige israelische Stempel. Die sind im Sudan ein absolutes No-go.
Ich schlender gezwungenermaßen zurück zum Zoll, um meinen Zweitpass zu holen. Auf dem Rückweg führt mich mein ungebetener Guide noch in die umliegende Hüttensiedlung. Ich versuche, die letzten Pfund in Getränke und einen Pudding umzusetzen. Gegen diese Holzhüttensammlung ist ein deutscher Mittelaltermarkt das reinste Raumschiff Enterprise. Alles braun in schwarz, flüchtig, Wind und Wetter preisgegeben.
Bei der Security ist ein zweiter Prüfer aufgetaucht. Ich jedenfalls habe die Seite mit dem äthiopischen Visum griffbereit und erläutere, dass der Pass bis auf eine Seite voll sei. Es gäbe also viele Seiten zu prüfen, um auf israelische Stempel zu stoßen. Die befinden sich allerdings auf Seite eins. Der Securityst überprüft nur meinen Namen. No problem. Bei der Grenzabfertigung das Gleiche noch einmal. Auf der Brücke, der eigentlichen Grenze, prüft niemand. Es herrscht reger kleiner unkontrollierter Grenzverkehr.

Äthiopien: die "You, You, You"-Jugend

Die äthiopische Grenzkontrolle ist noch unscheinbarer. Etwas abseits in einer Baracke. Der Kontrolleur nicht uniformiert, sein Schreibtisch übersäht von Aufklebern des organisierten Ostafrika-Tourismus. Einer allein zuständig für Ein- und Ausreise.
Vor der Baracke stehen irgendwo noch ein paar Zöllner rum. Einer entschließt sich schließlich doch noch, symbolisch in meiner Satteltasche zu kramen und zerreißt dabei die Werkzeug-Plastiktüte.
Die Geldwechsler-Guide geht leider leer aus. An meinen letzten drei sudanesischen Pfund ist er dann auch nicht interessiert. Ich verabschiede mich per SMS von der GSM-Welt. Roaming in Äthiopien funktioniert bei o2 nicht. Zwei, drei Hügel weiter kann ich noch einmal mit Miri telefonieren. Yeah.
Da hat schon der erste größere Affe die Straße gekreuzt. Die Strohhüttendörfer wirken ärmlicher, die Hütten noch durchlässiger. "You, you, you" grüßen die Kinder. Die Älteren tragen Regenschirme. Äthiopier sind keine Freunde der Sonne, auch wenn die auf der Nationalflagge scheint, mit der mich zwei Radler begrüßen (Foto rechts).
Abgefülltes Wasser und Limo kann ich vorerst nicht entdecken. Trinke ich in einem Dorf erst mal einen Tee. Statt Weihrauchduft wie im Sudan hier Mönchsgesang als Hintergrundkulisse. Ich frage nach. Es ist Fastenmusik der äthiopischen Kirche. Auch wenn die meisten hier so aussehen, als hätten sie eine unfreiwillige ganzjährige Fastenzeit, wird in der Fastenzeit offenbar weniger gegessen und Fleisch gar nicht. Rauchen ist auch tabu.

Wild aufs Fotografieren: Kinder bei Shehibi, Äthiopien Es wird Nacht und der nächste Ort mit Hotel bleibt weit, weit entfernt. Meine Kräfte lassen immer mehr nach. Kraft- und saftlos schleppe ich mich von Hügel zu Hügel. An einem Hochspannungsmast sondiere ich die Lage für das nächste Nachtlager. Die Gegend, die in der Dunkelheit den Eindruck größter Einsamkeit macht, wird bald lebendig. Rufe erschallen, Lichtkegel blitzen auf. Ich ziehe weiter. Egal. Wo auch immer ich halte, regt sich unerwartet die Umgebung. In der klaren Luft ist die Entfernung schwer einzuschätzen.
Kommt Plan B zum Einsatz. Am Wegesrand stehen ein paar Hütten. Kaum Licht. Aber die Menschen sind teils noch draußen zugange. Ich stoppe einfach. Frage die erstbeste Frau, ob ich hier irgendwo schlafen könne. Sie versteht sogar ein bisschen Englisch. Sagt sofort zu und schiebt mein Rad in ihr Haus. Thomas, ihr Sohn, findet das ok. Die Männer, die später kommen, schauen nicht so begeistert drein. Einen Sohn erkenne ich erst nach einiger Zeit. Er liegt einfach schlafend auf dem Erdboden.
Ich bin so fertig, dass ich sofort meine Isomatte neben dem Fahrrad ausrolle. Ich will nicht noch weiter in die Hütte eindringen. Und erwarte nicht mehr viel vom Abend. Der für die Familie grad erst beginnt. Meine Gastmutter fängt noch mal an, Getreide zu mahlen, um draußen ein Abendessen zu kochen. Zwischendurch regen sich über der Plastikplane, die etwa 20 Zentimeter unter dem Wellblech-Dach hängt, ein paar Hühner. Sie schlafen also eine Etage über mir. Ich dämmer schon weg. Und werd erst wieder wach, als die Familie samt schlafendem Sohn hinter der nächsten Tür verschwunden ist. Es wird doch ein wenig kühler und vor allem zieht Wind durch das Gestänge der Hüttenwand. Deshalb hatte die Frau mir eine Decke angeboten.


Ärmliches Strohhütten-Dorf in Grenznähe, Äthiopien
Ärmliches Strohhütten-Dorf in Grenznähe, Äthiopien


Unter Hühnern: Privat-Unterkunft bei Nagara ChehibTanklastzug-Surfen: Tabubruch nach 75.000 Kilometern
Samstag, 6. März 2010: Nagara Chehib [+6 km] - Gonder (103 km)

Drei Mal kräht der Hahn. Direkt über meiner Plastikfolie. Nachdem die Hühner drei Mal in der Nacht runter geschissen haben. Nach dem dritten Mal gegen 4:30 Uhr öffnet sich die Wellblechtür. Mutter Derssi ist die erste, die aufsteht. Sie öffnet auch das Gestänge nach draußen, stellt eine Schale mit Wasser nach draußen. Ich mache mir keine Illusionen. Mein Schlaf ist beendet. Endlich die Chance, früh loszukommen.
Kurz vor fünf sitze ich auf dem Rad. Derssi will partout nichts annehmen als Dank, außer meiner Visitenkarte. Ich winke in der Dunkelheit zurück.
Es ist 18 Grad. Angenehm frisch. Nur meine Kräfte sind nicht frisch. Irgendetwas in mir will nicht, kann nicht. Es geht weiter auf und ab. Nur ohne meinen Körper. Sobald ein Anstieg kommt, brauche ich alle 50 Meter eine Pause. Selbst beim Schieben. Ich nehme den Rucksack auf den Rücken, um das Rad leichter schieben zu können. Hilft nichts.
Ein Junge läuft eine Weile neben mir her. Schiebt aus Mitleid das Rad von hinten mit. Bei mir herrscht pure Verzweifelung. Ich fühle mich genau so, wie zu dem Zeitpunkt als ich in China auf 4.000 Meter Höhe die Karakorum-Tour beendet habe. Und danach noch tagelang zu nix in der Lage war. Und jetzt bin ich auf 1.500 m. Wie soll ich jemals nach Gonder kommen?
Die Versuchung naht in Form von Tanklastzügen. Mehrere. Auch sie ächzen schwerfällig den Berg hinauf. Oh, brothers, nach rund 75.000 Tour-Kilometern bricht meine innerste Firewall. Kurzentschlossen schwinge ich mich aufs Rad. Trete es ein wenig in Schwung. Und ergreife dann mit der Linken eine Halterung am Führerhaus, die für Fahrradfahrer geschaffen sein muss.
Ein kurzer Ruck im Arm, ein kleiner Schlenker nach rechts, ich trete mit etwas Energie nach und schon schiebt der LKW mich mit genau 7 km/h den Berg hinauf. 30 Jahre hab ich der Versuchung widerstanden. Und jetzt ist es göttlich. Einen winzigen Ticken schneller, als ich gewöhnlich selbst fahren würde.
Mein junger Begleiter hält locker mit. Der junge Beifahrer signalisiert, dass der LKW-Fahrer nicht begeistert ist. Ich stell mich dumm. Und kann mein Glück kaum fassen. Es läuft. Es sind nur wenige hundert Meter und sehr viel weniger als hundert Höhenmeter. Bis die Steigung ein bisschen flacher wird und der LKW-Fahrer mit deutlichem Hupen eine letzte Warnung ausstößt.
Ich lasse los. Und kann wieder radeln. Trampeln. Langsam, aber stetig. Meter für Meter spüre ich wieder neue Kraft. Muss noch ein, zwei Mal pausieren, fahre noch einmal 20 Höhenmeter an einem LKW mit. Das ist überflüssig. Es läuft wieder.
Mit einem ganzen Pulk von Menschen, die kilometerweit zum Markt im nächsten Ort unterwegs sind, erklimme ich den Pass. Der nie enden will. Bis auf 2.200 m. Und bei 5,5 km/h halten die Mädchen mit ihren fünf, sechs Papayas oder lebenden Hühnern in Plastiktüten über die Schulter geworfen locker mit.
Als ich in Seraba ankomme, gönne ich mir eine Pause. Und bin doch voll bei Kräften. Bloß nicht wieder überfordern. Als ich gerade wieder aufbrechen will, marschiert ein langer Trauerzug durch den Ort. Links und rechts eskortiert von weit über hundert Soldaten. Ein Soldat ist bei einem Autounfall gestorben und wird jetzt in einem grünen Sarg zum Grab geleitet. Sogar die meisten Kinder hören für einen Moment auf, mich mit "you, you, you" zu traktieren. Oder mit: "Where are you go?" Die Frage lässt viele Antworten zu. Die Kinder sind keineswegs so aggressiv und aufsässig, wie ich es noch kurz zuvor in den Schilderungen anderer Radler gelesen hab. Ich versuche, so weit möglich, auf die Kids einzugehen. Auch, damit sie nicht auf die Idee kommen, Steine zu werfen. Singe manchmal aber auch einfach "You, you are always on my mind. You, you're the one I'm living for."
Es dauert bis 20 Kilometer vor Gonder, bevor Jugendliche, die anfingen mit "you banana" gefolgt von "you money" und "you give me t-shirt" - ich bin kein Altkleidercontainer - schließlich Steine werfen. Und das ist ein Kawemmsmann, der - an der falschen Stelle getroffen - einigen Schaden anrichten kann. Es folgen kleinere Steine.
You, you, you: Kinder in Seraba, Äthiopien Hier auf rund 2000 Metern wird es mittags im sonnigen Fahrtwind nur 42 Grad und nicht wie an den letzten Tagen 45 Grad. So muss ich keine extra Hitze-Pause machen.
Erstaunlich wie unermüdlich die Kinder mithalten. Auch bergauf halten sie locker zehn Stundenkilometer eine Zeit lang mit. Wenn sie mich von Weitem kommen sehen, scheuen sie keinen noch so großen Acker, um zu versuchen, mich noch an der Strecke mit "you, you, you" auf sich aufmerksam zu machen. Wenn man das mit der Behäbigkeit vieler Kinder in Europa vergleicht...
Viele Kleidungsstücke stammen unverkennbar aus Altkleidersammlungen in Europa. Abstruse Spitze ein womöglich nie in Deutschland getragenes T-Shirt mit der Aufschrift "CDU Hagen" in Blau auf Orange. Da bin ich schon in Azezo, im richtigen Äthiopien. Von den 190 Kilometern bis zur Grenze sind nur zwei Kilometer (noch) nicht asphaltiert. Eine Revolution für alle Afrika-Overlander. Feinster Asphalt, der mich bergab bis auf eine Geschwindigkeit von 75 Stundenkilometern bringt.
Die restliche Strecke auf der Hauptstraße nach Gonder ist älter und an vielen Stellen marode. Viel befahrener. Am Ortseingang hängt sich ein Jugendlicher auf seinem Fahrrad an mich, eskortiert mich zur Pension Belengez, von der der Führer nicht verrät, wo sie ist. Sie erweist sich als genau die Unterkunft, von der man an solchen Ort träumt: zentral, klein, fein, sauber, ein Traveller-Treff, ein kommunikativer Innenhof. Mit Atmosphäre. Nach zwei Crash-Record-Nächten ein richtiges Bett. Und zu waschen habe ich auch genug.


Paläste der Kaiser Fasilidas und Iyasu I., 17. Jh., Gonder, Äthiopien
Paläste der Kaiser Fasilidas (li.) und Iyasu I., 17. Jh., Gonder


Äthiopische Mönche am Debre Berhan Selassie, GonderTonight's Gonna be a Good, Good Night
Sonntag, 7. März 2010: Gonder

Sonntag Morgen in Gonder (auch Gondar). Murmelndes Gebet liegt über der Stadt. Was manchen in islamischen Ländern gelegentlich verunsichert, das wirkt bei christlichen Äthiopiern ganz normal. Wie sie beten, ist oft äußerlich von Muslimen beim Gebet kaum zu unterscheiden.
Ich entschließe mich erst einmal für eine Grundrevision und Wäsche. Alles ist durch die letzten Nächte und Tage mehr oder weniger verdreckt. Als ich endlich aufbreche, sind die Gottesdienste längst vorüber. Der Gemp, der ummauerte Burgberg des einst prächtigen kaiserlichen Hofes, liegt um die Ecke. Riesige Ruinen ragen in den Himmel trotz vielfacher Zerstörung, zuletzt 1941 durch einen Fliegerangriff der Engländer (Dresden, du bist nicht allein!).
Mit Zwischenstopps in meinem Lieblingscafé Retina mit allzeit frischem Mango- und Avocado-Saft nähere ich mich am frühen Nachmittag dem Kloster Debre Berhan Selassie. Die Mittagspause ist noch nicht vorüber. Der Uhrenvergleich mit einem Jugendlichen ergibt: Tatsächlich, die Äthiopier zählen die Stunden wie zur Zeit Jesu in Palästina. Sie beginnen mit dem Aufstehen. Um sechs Uhr ist Mittag. So gut wie keine Uhr läuft hier nach MEZ minus 2 Stunden, der offiziellen Parallelzeit.
Auch gilt hier unverdrossen der julianische Kalender, sodass die Äthiopier acht Jahren hinter dem Rest der Christenheit hinterherhinken. Im vergangenen Jahr feierten sie das "äthiopische Millenium", wie noch auf vielen Plakaten zu sehen ist. Auch mit Sabbat und Beschneidung bewahren sie jüdische Traditionen.
Uhrzeit hin oder her, letztlich muss der Ticketverkäufer herbeitelefoniert werden, damit ich endlich in die Kirche komme. Brillant sind die Farben und der konsequente Stil der äthiopischen Ikonenmalerei. Die Decke voller Engel (Foto ganz unten) und die Wände voller (halb)biblischer Geschichten. Besonders faszinierend der Teufel und sein Reich (Foto unten). Ein paar Augenblicke profitiere ich von der exzellenten Führung einer Gruppe von Biblische Reisen.
Auf dem Rückweg komme ich mit Hanna und Marta ins Gespräch. Zwei 19 Jahre alte Studentinnen. Hanna vermittelt ein Taxi ins Falasha-Dorf. Wir verabreden uns mal locker für den Abend. Falasha, die äthiopischen Juden, sind mit mehreren Luftbrücken in den achtziger und neunziger Jahren nach Israel gebracht worden. Dort haben sie als "schwarze Juden", deren jüdische Identität von orthodoxen Rabbinern angezweifelt wird, keinen leichten Stand. Mein Führer behauptet, einige seien in eines ihrer Heimatdörfer bei Gonder zurückgekehrt.
Das können die Frauen, die in den paar Hütten am Straßenrand semi-jüdische Souvenirs verkaufen, nicht bestätigen. Aber sie zeigen mir eine "Synagoge". Der aufgemalte blaue Judenstern ist zunächst das einzige, was auf ein jüdisches Gotteshaus hinweist. Innen hängen ebenfalls verkaufsbereite Souvenirs. Doch die Frau weist an die Mitte der verkohlten Decke. Dort, wo die Träger aufeinandertreffen, ist ein ebenso verkohlter Davidstern zu erkennen. Es könnte tatsächlich…
Im "Broadband-Internet"-Café versuche ich noch erfolgreich, meine Sticks von Viren zu säubern. Dann muss ich zu meinem Appointment mit Hanna und Marta zurück im Hotel sein. Hanna erscheint tatsächlich. Begrüßt mich äthiopisch mit Handschlag und Berühren der rechten Schultern. Marta könne noch nicht, sie kämen dann in einer Stunde.
Das gibt mir Gelegenheit, mit meinem Virusverseuchten Netbook zurück ins Internet-Café zu ziehen. Der Anschluss ans Netz ist für die junge Expertin kein Problem. Doch als ich das relativ kleine Antivir-Programm runterladen will, heißt es: Dauer: 2.30 Stunden. Sie bieten mir an, das Netbook dazulassen, um es nach Ladenschluss abzuholen. Ok.

Hanna und Marta - äthiopisches Dancing in einem der Nightclubs von Gonder Wieder erscheint nur Hanna. Wir könnten ja schon mal essen gehen. Da rollen Carolin und Andi, zwei sehr nette Africa-Overlander, mit ihrem Münchener Jeep in den Hof der Belengez-Pension und parken neben meinem Fahrrad.
Dann zieht mich Hanna durch ein paar ultra-dunkle Straßenzüge zu einem Garten-Restaurant. Wegen der Fastenzeit isst auch sie vegetarisch. Bestellt zwei Gerichte: Nudeln bzw. Gemüse auf dem obligatorischen äthiopischen Teigfladenbrot aus Teff-Getreide: Injera. Recht scharf. Sehr lecker. Aber gewöhnungsbedürftig. Meine erste Begegnung mit der äthiopischen Küche.
Hanna erzählt. Von ihrer Kindheit bei der Großmutter in Bahir Dar, den zwei sehr viel jüngeren Brüdern, dem Tag, als der Soldat kam und berichtete, dass der Vater im Krieg mit Eritrea gefallen sei.
Fast schräg gegenüber landen wir bald in einem traditional Club. Das winzige Einraum-Lokal ist mit seinen 15 Besuchern schon restlos überfüllt. In der Mitte bewegt sich ein Musiker mit einem einsaitigen Instrument und einer Tänzerin. Die an den Wänden sitzenden Gäste klatschen, singen und tanzen mit. Bald soll ich auch mit der Tänzerin mithalten: vor allem lockeres Schütteln des Oberkörpers ist gefragt. Dazu Dashen-Bier, an dessen Brauerei ich gestern in Azezo vorbeifuhr. Auch wenn Ras Dashen, mit 4550 Metern der höchste Berg Äthiopiens, ein ganzes Stück nördlicher liegt.
Bald müssen wir aufbrechen. Mein Netbook ist abholbereit. Der Download ist zwar fertig, aber für die Installation von Antivir müssen wir noch mal eine halbe Stunde Updates runterladen. Und die Café-Besitzerin möchte unbedingt alles kopieren für den Eigengebrauch. Hanna, ohne Email- und Interneterfahrung, bleibt dabei. Ihren deutschen Bekannten Alexander, der mal ein Jahr in Bahir Dar im Hospital arbeitete, und dessen Kontakt-Daten ihre Schulkollegen zerstört hätten, kann ich auf die Schnelle nicht im Netz finden. Alexander habe ihr gesagt, sie sei zu schlau, um als Eierverkäuferin am Straßenrand zu enden. Er habe sie ermutigt und finanziell unterstützt, ihre Ausbildung am College fortzusetzen.
Als wir endlich wieder auf der Straße sind, taucht Marta plötzlich frisch zurecht gemacht für einen Tanz-Abend wieder auf. Die beiden wechseln erst mal ein paar Worte, die ich wohl besser nicht verstehe. Aber dann sind wir schon im nächsten Club. Nightclub nennen sie es, wenn dort moderne Musik läuft. Zwei Drittel äthiopisch, ein Drittel englisch. Alles kleine Einraum-Etablissements mit ein paar Sitz- oder Stehgelegenheiten am Rand und in der Mitte eben die nimmer leere Tanzfläche. Mein Höhepunkt: "Tonight's gonna be a good, good night" dröhnen die Black Eyed Peas mit ihrem "inspirational dance-pop" 2009er Hit "I Gotta Feeling" in den dunklen Raum.
Zwischendurch lerne ich Hannas Mutter kennen. Sie sitzt kurz vor Mitternacht am Sonntag Abend am Straßenrand und verkauft gekochte Eier, irgendwelche Körner und Zigaretten. Hanna hilft kurz, als aus einer Rikscha heraus Körner verlangt werden. Dann ziehen wir in den nächsten Club. Der Lärm, die Rhythmik, die Bewegung, der schlecht verlegte Kachelboden, die verdreckten Räume, das Bier, die Sorglosigkeit, das Leben im Hier und Jetzt. Ich bin in Afrika. Angekommen. Mit dem Rad. Und glücklich. "Tonight's the night: Let's live it up. I got my money, Let's spend it up."
Als es zurück zum Hotel geht, bestehen Hanna und Marta aufgrund ihrer Einschätzung der Sicherheitslage darauf, mit mir und meinem Netbook eine Rikscha zu nehmen. Wir rasen in offener Fahrt durch die Stadt mit ihren Rumpelpisten. Ein Zwischenstopp bei Hannas Mutter versorgt mich mit fünf Eiern für die nächste Etappe. Hanna erwirkt bei mir einen großzügigen Verdienstausfall für ihre Mutter, da Hanna ja an diesem Abend nicht gearbeitet hat. Am Hotel zahle ich für die Weiterfahrt von Hanna und Marta mit. Die würden gern bleiben. "Let's do it, let's do it, let's do it." Erst als der Rikscha-Fahrer losbraust, jagen sie ihm hinterher. Es ist wohl wirklich nicht ungefährlich. Same same but different. Kaum ein Glück währt ewig.


Teufel und Umgebung in der Kloster-Kirche Debre Berhan Selassie, 17. Jh., Gonder, Äthiopien
Teufel & Co. im Debre Berhan Selassie, 17. Jh., Gonder


Burg von Guzara aus der Gonder-Zeit, 16. Jh., ÄthiopienÄthiopien für die Harten: Fünfzig Steine und ein Oberschenkelhalsbruch
Montag, 8. März 2010: Gonder - Bahir Dar (175 km)

Schon kurz hinter Azezo hängt sich ein Junge an meine Gepäcktaschen. Ich hab nicht damit gerechnet und liege sofort samt Rad am Boden. Aber nur für Sekunden. Ich springe sofort auf und jage dem Jungen hinterher. Auf dem stoppeligen Acker verringert sich der Abstand immer mehr. In dem longdistance-Radler stecken überraschende Sprintqualitäten. Ich kann es doch noch mit den athletischen Äthiopiern aufnehmen.
Aus dem Jungen wird ein wimmerndes Etwas. Als ich das Fliegengewicht aus Haut und Knochen in einer Hand hochhalte, weiß ich nichts recht mit ihm anzufangen. Der Schreck reicht glaub ich für erste pädagogische Erfolge aus. Die umstehenden Erwachsenen nehmen alles gleichgültig zur Kenntnis. Ich richte mein Fahrrad wieder auf und fahre weiter.
Es bleibt nicht der einzige Zwischenfall an diesem Tag. Immer wieder bekomme ich Steine hinterher geworfen. Oft, nachdem ich mich halbwegs mit den Jungen unterhalten habe. Aber ihrer Bitte nach Geld, Nahrung, Kleidung nicht nachgekommen bin. Zu ihrer erstaunlichen Athletik gehört, dass sie bei Tempo 20 Stundenkilometern so neben mir herlaufen und sich unterhalten, als säßen wir daheim auf der Couch. Mit 14, 15 Stundenkilometern rennen sie bergauf. Auch das Werfen sehen sie als sportliche Herausforderung. Rund 50 Steine werden so gezielt auf mich geworfen. Zumindest schlagen sie in meiner unmittelbaren Umgebung ein. Einer trifft mich. Harmlos. Aber anders als in andern Ländern, wo nur sporadisch und mehr symbolisch geworfen wird, geschieht das hier systematisch und ganz gezielt.
Manfred, ein Vermessungstechniker, der seit zwölf Jahren an meinem Zielort Bahir Dar lebt, erzählt mir am Abend beim Bier, dass ein deutscher Radler vor einem Jahr ein paar Kilometer vor Bahir Dar durch Kinder zum Sturz gebracht wurde. Oberschenkelhalsbruch. Drei Wochen sei er zur Behandlung hier gewesen. Manfred meint, er könne vom Fahrrad fahren in Äthiopien nur abraten. Das habe er auch der deutschen Botschaft geschrieben.
Ich hab seit Jahren von den Horrorgeschichten in Reiseberichten gelesen. Fast alle Radler bezeichnen Äthiopien als das unangenehmste Land in Afrika. Aber bei vielen Kindern ist auch echte Begeisterung in den Mienen. Und sie sind extrem arm. Bei einer Rast will ich eine leere 1,5-Liter-Plastikflasche loswerden. Die Kinder reißen sie mir aus der Hand. Zwei ältere Männer fotografiere ich, wie sie mit einem Schirm auf der Landstraße laufen. Sofort wollen sie etwas. Ich fülle ihnen etwas Wasser in eine kleine Plastikflasche. "Habi-Kola", das ich am Morgen gekauft habe. Ein Produkt aus Somaliland, wie ich bei der Mittagspause überrascht feststellte. Somaliland ist ein Teil Somalias, der relativ stabil ist und der sich für unabhängig erklärt hat. Die "Hauptstadt" Hargeysa hat mehr als eine halbe Million Einwohner. Dort soll man problemlos reisen können. Visa gibt’s in Addis Abeba...
Ja, die Mittagspause ist der einzige Moment des Tages, den ich heute allein verbringe. Ich bin von der Straße abgebogen zu einer World-Heritage-Burg: Guzara. 200 Meter soll sie von der Straße entfernt sein. Nach 250 Metern reicht es mir auf dem Feldweg und ich stell mein Fahrrad ab, esse, trinke - ungestört ohne Zuschauer - und gehe die restlichen tausend Meter zur Burg zu Fuß.
Von der Burg aus kann ich erkennen, dass mein Fahrrad noch steht, wo es stehen soll. Ich fühle mich also weiter unentdeckt. Doch nachdem ich ein paar Fotos (Foto rechts) geschossen hab, tauchen aus dem Nichts zwei Kinder auf. Und die Money-Pen-T-Shirt-Leier beginnt im Nu.

Pay first: Blick auf den Felsen des St.-Johannes-Klosters bei Addis Zemen, ÄthiopienPhoto Money: Pay First
Nach dem ersten Pässchen von 2150 Metern geht’s vor Addis Zemen auf 2250 Meter hoch. Nicht wirklich viel, weil man nie unter die 1800-Meter-Marke sinkt. Die Abfahrt belohnt. Schöne Landschaft mit einzelnen erratischen Felsen in der Landschaft. Am auffälligsten Felsblock wird man gebeten erst zu zahlen, bevor man ein Foto schießt. Denn irgendwo an diesem Felsen befindet sich eine Kirche oder Eremitage. Und zusammen mit dem Schild und dem Spendeneintreiber an dem Geldstock ist das Ganze erst recht ein Motiv (Foto links).
Eine andere Attraktion kehrt dagegen immer wieder: viele Busse beschallen nicht nur das Innere mit Musik, sondern lassen auch ihren Außenlautsprecher laufen. Für einen kurzen Moment zieht dann äthiopische Musik an mir vorbei (Tonfilm rechts).
Den Nachmittag über schleppe ich mich von Limo zu Limo. Als ich an einem Kiosk auf Mango-Saft umsteigen will, bekomme ich erst mal die Kaudroge Kat angeboten. Frisch gepflückt. Ich probier mal ein Blättchen. Schmeckt nicht schlecht. Für die belebende Wirkung muss man allerdings einen ganzen Ballen eine Stunde lang im Mund bewegen. Dann wird man richtig high.
Ich werde gar nicht high, weil der Mango-Saft doppelt so viel kosten soll wie sonst. Kauf ich eben nix. Zumal mir sowieso nach was anderem ist. Aber das Warenangebot ist ernüchternd. Auch beim "Diplomat Snack" von Addis Zemen liegen nur fünf Limo-Flaschen im Kühlschrank. Bei einem andern Stopp entdecke ich noch zwei Bananen in meinem Gepäck. Ich muss sie essen, auch wenn mich hungrige Kinder-Augen ansehen. Ich werfe die Schalen erst nach ein paar Metern weg und sehe beim Blick zurück, dass sich auch darauf ein Kind stürzt. Ähnlich verstörend: ein Junge, mit einem Strick gefesselt, wird von einem Mann vor sich her getrieben. Wie ein Sklave.



Die Etappe wird mir mit ihren 175 Kilometern zu lang. Die nächsten Tage will ich deutlich weniger fahren. Auch wenn es erst auf den allerletzten Metern dunkel wird. Die sind bei der Einfahrt in Bahir Dar mit massig unbeleuchteten Radlern und Fußgängern kein Vergnügen. Auch die Hippos bei der Nil-Brücke am Ausfluss des Tana-Sees bekomme ich im Dunkeln nicht zu sehen.
Kein Hotel macht mich bei der Stadtdurchfahrt so richtig an. So rolle ich durch zum alten Ghion Hotelkomplex direkt am See. Gar nicht so heruntergekommen wie in meinem Führer beschrieben. Und restlos voll. Ich kann campen für 1,50 Euro, bekomme aber für einen Euro Aufpreis ein Restaurant mit einer Matratze ausgestattet. Und hab so etwa hundert Quadratmeter für mein Radl und mich. Brauche nur noch mein Moskito-Netz an eine Lampe zu hängen.
Bis die Matratze vorbereitet ist, bekomme ich was Richtiges zu essen. Die Fasten-Platte. Natürlich ohne Fleisch. Eine Sammlung von Linsen, Salaten etc. auf dem unvermeidlichen relativ geschmacklosen unterschiedlich sauren Injera. Manfred kann nach eigenen Angaben nicht mehr ohne Injera leben.
Auch der Rotel-Bus, der mich heute überholt hat, steht hier. Mehrere Senioren-Urlauber, die Nacht für Nacht in seine kleinen Schlafkajüten klettern, schildern mir aus dem Leben der verschieden mobilen Senioren-Generationen an Bord.


Bauernhof im Abendlicht zwischen Werota und Bahir Dar, Äthiopien
Bauernhof im Abendlicht zwischen Werota und Bahir Dar


Klosterkirche Uhra Kidane Mehret auf der Halbinsel Zeghie, Tana-See, ÄthiopienKlösterinseln und Papyrus-Boote im Tana-See
Dienstag, 9. März 2010: Bahir Dar

Ich bin unentschlossen. Weiterfahren oder bleiben? Die Blumen-Pflanzen-Bungelow-Anlage des Ghion Hotels am See, eine unglaubliche Frühstücksauswahl und die Klöster-Inseln locken zum Bleiben. Als ich an der Rezeption auftauche, bekomme ich noch ein Ticket für eine Bootsfahrt. Fünf südliche Insel-Klöster werden versprochen. Unter Verzicht auf das Frühstück. Obwohl die Abfahrt sich doch noch hinzieht. Ein irisches Paar, drei Londoner Radlerinnen, die für ein Charity-Projekt der Adventisten mit Begleitwagen durch West-Äthiopien geradelt sind, ein Kanadier, zwei Italienferinnen und eine äthiopische Familie aus Las Vegas sind an Bord des winzigen Boots.
Die erste Insel ist recht enttäuschend, weil die Kirche recht neu, teils im Bau ist. Die Malereien bekommen wir erst nach intensiver Nachfrage auf Englisch erläutert. Ein Erzengel hat verzückende Gesichtszüge (Foto links). Das angekündigte Museum sehen wir gar nicht. Die Nonnen wollen nicht fotografiert werden.
Die nächste Insel, die wir ansteuern, ist für Frauen gesperrt. Eine der Londonerinnen protestiert. So bekommt sie keiner von uns zu sehen.

Erzengel mit ehernem Schwert in der Klosterkirche Intoes Iyesus, Tana-See, Äthiopien Dann landen wir an der Halbinsel Zeghie an. Die Irin kränkelt und bleibt an Bord. Hier bekommen wir einen Führer, der uns durch die Souvenir-Stände und an Kindern vorbei, die kleine Papyrus-Boote für 50 Euro-Cent anbieten, zur Rund-Kirche (Foto rechts) mit ihren Malereien geleitet. Anders als in Gonder, aber rundum beeindruckend. Das "Museum", das man durch ein Schaufenster besichtigen kann, präsentiert ein paar Kaiser-Kronen und Ziegenleder-Manuskripte aus dem 9. und 14. Jahrhundert.
Die Kirche auf der dritten und letzten Insel ist gar nicht bemalt. Kostet aber so wie alle anderen 50 Birr Eintritt (ca. 2,50 Euro) pro Person. Für einen Birr bekommen wir zwei frisch gepflückte Bananen. Bevor wir auf dem Rückweg noch an echten Papyrus-Booten vorbeischippern (Foto unten). Es war ok, aber eine echte kunsthistorische Führung - wie die von Biblische Reisen gestern - bekommt man so auf die Schnelle nicht.


Im Papyrus-Boot auf dem Tana-See, Äthiopien
Im Papyrus-Boot auf dem Tana-See


Geier feiern ein totes Kalb am Straßenrand bei Bahir Dar, ÄthiopienDie schöne Hiwoth und die Geier
Mittwoch, 10. März 2010:

Ich stehe auf und werde von einem Schwindel voller Unwohlsein erfasst. Something is wrong. Definitely. Wieder habe ich fast nichts von dem Frühstücksangebot des Ghion Hotel. Immerhin, es geht mir nicht so schlecht, dass ich gar nicht fahren kann. Es ist auch erst mal recht flach. An der Seite eines Jungen, der mit begrenzter Begeisterung seine Mutter im Krankenhaus besucht, radle ich aus der Stadt.
Nach 20 Kilometer kommt der erste Ort. Ich schleppe mich zu einem Laden. Trinke was. Mein Körper will nicht weiter. Ich sinke auf ein paar Wellbleche. Der Ladenbesitzer schiebt noch schnell ein paar Plastiktüten und ein Kissen unter. Leichtes Fieber. Drei Stunden lang lieg ich da. Ein Junge hat sich zum Oberaufseher über mein Fahrrad erklärt. Was gar nicht nötig ist. Ich lass mein Rad immer am Straßenrand stehen. Anfangs stehen viele Jungs drumherum. Sobald einer was berührt, wird er von den andern zurecht gewiesen.
Als ich mich langsam wieder aufrichte, ist plötzlich einer da, der Englisch spricht. Sie wollen mir Medizin in der Apotheke holen. Mir reicht völlig ein bisschen Brot. Dann steig ich wieder auf. Und es geht munter weiter. Rund 15 Geier ergötzen sich an einem toten Kalb am Straßenrand (Foto rechts). Schön heute: kein einziger Steinwurf. Einmal hab ich den Verdacht, aber sonst nix. "Salamnu." grüßen die Leute inzwischen. Muss auch irgendwie von Sallam stammen. Alle 15 Kilometer kommt ein Ort. Jedes Mal trinke ich 7up, Mirinda, Sprite, Fanta. Nie finde ich mal was Vernünftiges zu essen. Je länger und heißer der Nachmittag, desto weniger ist mir nach Essen.
Schließlich steigern sich die Bergkuppeln. Es geht auf und ab. Immer ein paar Meter höher als zuvor. Mir fehlen die Kräfte. Ich brauche viele Pausen. Mein Tagesziel, mit 110 Kilometern eh bescheiden, erreiche ich nicht mehr. In Dangla (auch Dengla, Dangila, Danghila, Dangilla, Dangela) ist nach 78 Kilometern Schluss. Das Central Hotel hat nette Zimmer (und nette Menschen: Hiwoth zum Beispiel - Foto unten) im Hinterhof für 2,22 Euro. Ich fotografiere Hiwoth. Und muss darauf alle anderen knipsen, die zum Hotel gehören. Hiwoth führt mich zum benachbarten Fotoladen, wo ich eine runde Abzüge für alle spendieren darf und sehe, dass der Dorffotograf Hiwoths Schönheit noch besser eingefangen hat.
Der junge Geschichtslehrer, der halbwegs Englisch spricht, verdient ca. 90 Euro im Monat. Natürlich ist auch er stolz, dass Äthiopien nie kolonisiert wurde. Aber dadurch beherrschten die meisten Äthiopier keine Fremdsprache halbwegs gut, erklärt er mir.
Dann liege ich wieder auf dem Bett. Mit leichtem Fieber. Unfähig auch nur den Lichtschalter auszuschalten.


Model Hiwoth, Central Hotel, Dangla, Äthiopien
Liebt Fotos: Hiwoth in Dangla


Radl-Versuch
Donnerstag, 11. März 2010: Dangla - Addis Kidame (22 km)

Ich versuche mal, frühstücken zu gehen. Es gibt ein Café, wo draußen ein paar jüngere Männer sitzen. Sie trinken Tee. Und essen Brot. Ein großes Stück Weißbrot. Das ist auch das einzige, was ich angeboten bekomme. Mit einer Pepsi quäle ich das trockene Stück Brot runter. Wenigstens nicht süß.
Ich versuche mal, zu radeln. Bei 5,7, 6,1 und 8,7 Kilometern brauche ich die ersten drei Pausen. Ich schleppe mich in ein Haus, vor dem gerade gefegt wird. Und lege mich auf eine Liege. Gut anderthalb Stunden. Ein paar Jungs liegen und sitzen herum. Einer lässt den begrenzten Musikschatz seines Handys immer wieder laufen.
Ich versuche, weiter zu radeln. "Pain is temporary, Glory is forever." Wie es gelegentlich am Rand der Straßenmarathons zu lesen ist. Es geht unentwegt aufwärts. Meine Hoffnung auf ein Ende der Anhöhe wird endgültig zerstört, als ich vor mir liegend auf der Karte die 2.500-Meter-Höhenlinie entdecke. Auf gut 2.450 Metern endlich der erste Ort mit Hotels: Addis Kidame (auch Addis/Adis Kidam; Ādīs K’idamē). Ich schaue sie mir alle an. Keins ist so schön wie das von gestern. Ich entscheide mich für Ahadu, das teuerste: 25 Birr, macht etwa 1,25 Euro. Nur 21 Kilometer habe ich geschafft und keine Ahnung, wie und wann es weiter gehen kann.


Hotel Ahadu, Addis Kidame, Äthiopien
Blick von meinem Ruhelager im Hotel Ahadu, Addis Kidame


Mini-Spaziergang
Freitag, 12. März 2010: Addis Kidame

Mit Alex bin ich am Morgen verabredet. Gemeinsam gehen wir ein bisschen shoppen. So kaufe ich die letzten oder einzigen vier Bananen in einem Holzstand, gegenüber vom Hotel im Hof einen Liter Milch. Dem Käse gegenüber trau ich nicht. Wasser. Plätzchen. Meine Kräfte sind schon wieder erschöpft. Alex fragt, ob er noch mal kommen soll. Ich sage um fünf Uhr. Vergesse aber die äthiopische Uhrzeit-Rechnung. Für ihn bedeutet das 23 Uhr. Auch dann erscheint er nicht, versteht es wohl eher als Ausladung.


Hotel Ahadu, Addis Kidame, Äthiopien
Restaurant-Block im Innenhof des Hotel Ahadu von hinten


May I Introduce Myself
Samstag, 13. März 2010: Addis Kidame

Es geht weder besser noch schlechter. Was genau ist meine Krankheit? Ich bin nicht krank. Ich bin so geschwächt, dass ich mit dem Rad keine fünf Kilometer weit käme. Ich kann nichts recht essen. Obwohl die Verdauung funktioniert und ich auch nicht kotzen muss. Ich mag nicht. Mein Körper mag nicht, nichts. Schokolade, Joghurt wären Traumpassagen zu neuer Nahrungszufuhr. Aber ich bin wohl recht weit von ihnen entfernt. Nur mit Aspirin ist mein Magen überhaupt bereit, etwas aufzunehmen. Sonst krampft er.
Vor meinem Rückzug ins Hotel habe ich hier in der Pharmacy neues, äthiopisches Aspirin gekauft. Der Apotheker wurde eigens für mich mobilisiert. 300 mg. Zehn Stück für 3 Birr, i.e. 18 Euro-Cent. Aber sie wirken. Keine Frage. Ich wasche ein paar kleinere Klamotten. Bin schon wieder ko.
Erst um fünf kann ich mich zu einem Rundgang aufraffen. Die Kühe werden noch gemolken. Ich gehe mal in ein paar Nebenstraßen. Gerate an die Polizeistation, wo ich nicht gerade mit offenen Armen empfangen werde. Dann bin ich von einer Traube Kinder umringt. Zwei ältere versuchen ganz förmlich ins Gespräch zu kommen: "May I introduce myself to the cultural heritage of your country..." Sie setzen immer wieder an, ohne den Satz zu einem sinnvollen Abschluss zu bringen. Ich will dagegen wissen, wo die Kirche ist. Und wann da am Sonntag Gottesdienst ist.
Chris on the bank zum Schuhe-Putzen in Addis Kidame, Äthiopien Ich werde zum längst ruhenden Marktplatz getrieben. Zwei Cracks spielen an einem halbwegs funktionstüchtigen Kicker auf unebenem Grund. Immer gewinnt derjenige, dessen Spielhälfte höher liegt. Die Umstehenden setzen wohl Gelder auf die beiden Spieler. Ich werd auch eingeladen. Drehe dankend.
Wende mich Schuhputzern zu. Meine dreckigen Laufschuhe fallen wohl unangenehm auf. Viele laufen mit Turnschuhen rum. Die werden von den Schuhputzern mit Wasser und Seife gereinigt. Eigentlich würden sie meine Schnürsenkel separat waschen. Da ich sie selbst kaum wieder durch die Ösen bekomme, halte ich sie davon ab. Im Nu sind die Schuhe nass und sauber (Foto rechts). Ebenfalls 3 Birr. Für 2 Birr bekomme ich vier Seiten mit meiner sehr gefragten Visitenkarte kopiert.
Am Kilometerstein 450 vorbei - 450 Kilometer vor Addis Abeba - kehre ich zurück ins Hotel Ahadu und lasse im Restaurant die Milch aufkochen. Plötzlich ist Alex wieder da. Er ist mindestens so überrascht wie ich. Ich versuche das Missverständnis mit den Uhrzeiten aufzuklären. Wir versuchen morgen früh einen Neuanlauf zum Gottesdienst. Er würde schon um 12 Uhr los, ich erst um 1 Uhr, auf deutsch 7 Uhr morgens.
Zuguterletzt versuche ich mich mit Lieblingssongs zu pushen. Das Netbook machts möglich. Ein Stück Heimat direkt neben dem Bett.


Hotel Ahadu, Addis Kidame, Äthiopien
Fast vier Tage lang mein Ruhelager:
Zimmer im Hotel Ahadu, Addis Kiddame


Sonntags-Gottesdienst an der Kirche St. Gabriel in Addis Kidame, ÄthiopienZwei Liter Milch am Fastensonntag
Sonntag, 14. März 2010: Addis Kidame

Ähnlich wie die vorletzte Nacht, ist es wieder grausam. Mein Brustkasten scheint bei jedem Atemzug zu platzen. Irgendwann schlaf ich doch. Als ich aufwache, spüre ich: morgen kann ich weiter fahren.
Alex taucht nicht auf. Geh ich allein zum Sonntagsgottesdienst in St. Gabriel. Über ein weites freies Feld, in dem der Fußballplatz ein Teilchen ist, streben die weiß gekleideten Menschen zur Anhöhe. Die Kirche ist wie meist, vor allem daran zu erkennen, dass der Hügel voller Bäume ist. Hier wagt niemand, das Holz zum Kochen zu fällen. Die Kirchen bestehen schon an sich hauptsächlich aus dem für Gläubige unzugänglichen Allerheiligsten mit der Bundeslade. Vorbild des Kirchbaus ist der jüdische Tempel. Doch beim Sonntagsgottesdienst nähern sich die meisten nur einem durch Pflanzen abgesteckten Ring in etwa hundert Meter Entfernung zum Kirchbau. Der Vor-, vor-, vor-Himmel sozusagen (Foto rechts).
Einer meint, ich hätte da nichts zu suchen, andere sind anderer Meinung. Ich sage, ich wolle beten. Das darf ich dann. Als die Predigt beginnt, gehe ich. Der Gottesdienst dauert Stunden. Die Gläubigen kommen und gehen. Ganz in meiner Nähe steht eine Spendenbox und wer gespendet hat, darf Kreuz und Hand des Popen küssen. Ein Junge ist verzweifelt, weil er einen zehn-Birr-Schein nicht gewechselt bekommt. Ich schenke ihn einen Birr und überglücklich kann er nun auch etwas in die Spendenbox tun.
Ich bin so fit, dass ich die ersten Tage im Bike-Blog übertragen kann. Später auch ein paar Postkarten schreiben. Und doch bringt mich ein einstündiger Spaziergang, bei dem mir bald 30 Kinder folgen, an den Rand meiner Kräfte. Heute kaufe ich sogar zwei Liter Milch und lasse sie in der Holz betriebenen Küche unseres Hotels abkochen. Milch, Käse, Eier sind wohl deshalb verschwunden, weil eben Fastenzeit ist. Und das nicht zu den Fasten-Speisen gehört. Auch Kaffee und Tee werden nur mit Zucker getrunken. Ich bereite nichts vor zum Fahrrad fahren morgen, außer meinen Kopf: der weiß, es geht weiter.


Bergmassiv kurz hinter Addis Kidame, Äthiopien
Bergmassiv kurz hinter Addis Kidame


Zengena Lake (2500 m) bei Kosober, ÄthiopienDie einsame Braut des Deutschen
Montag, 15. März 2010: Addis Kidame - Injibara (2560 m) - Dembecha (109 km)

Nachdem ich fast zur festen Einrichtung des Hotels geworden bin, erleichtert man mir den Abschied mit der Erkenntnis, dass meine Bettwäsche erst gar nicht gewechselt wird sondern nur ein bisschen aufgeschüttelt. Immerhin hatte ich sie ja auch gestern erst wechseln lassen.
Ich bin heilfroh, dass ich vor vier Tagen in Addis Kidame gestoppt habe. Denn es geht weiter gnadenlos bergauf. Injibara markiert nach 15 Kilometern mit 2560 Metern den bisher höchsten Punkt der Tour. Im direkt anschließenden, größeren Kosober gelingt es mir, in einem Minipostamt meine Postkarten auf den Weg zu bringen. Drei Wochen werden sie brauchen.
Sechs Kilometer hinter Kosober weist ein Schild auf den See Zengena. Es sind tatsächlich nur hundert Meter bis zum großen Parkplatz, der kommerziell bewirtschaftet wird. Derzeit einziger Kunde: ich. Für 15 Birr, ausgewiesen auf einer Fantasie-Quittung - immerhin mit äthiopischen Datum: heute ist der 6.7.2002 nach julianischem Kalender halt - darf ich mir den Krater-See anschauen. Mit einer Videokamera würd's - wie fast überall in Äthiopien - teurer.
Einer der beiden Jungs begleitet mich, erzählt von Plänen für Lodges. Auf dem Weg zum See begegnen uns vier Frauen, mit schweren Wasseramphoren auf dem Rücken (Foto rechts). Mein Guide meint, sie hätten Angst vor mir. Der rundum bewaldete Krater ist klasse. Auf die drei-Kilometer-Umrundung verzichte ich. Folge aber den Frauen zu einer Baustelle. Neben einer alten wird eine neue Rundkirche gebaut. Der Estrich wird grad gelegt, könnte man sagen. Die Frauen schleppen stetig Wasser dafür heran. Ehrenamtlich versteht sich. Der Pope sitzt an einem Baum und meditiert vor der alten Kapelle. Die Bauarbeiter sind völlig entzückt, dass ich ein Foto von ihnen mache.
Wie schon seit Bahir Dar folgt alle 15 bis 25 Kilometer ein größerer Ort mit Restaurants und Hotels. Die Straße führt in eine breite Senke, fällt bis auf 1850 Meter. Hinter Jiga geht's wieder bergauf. Kräftig. Ich muss einige Pausen einlegen. In Dembecha bin ich am späten Nachmittag wieder auf 2175 m. Insgesamt hab ich die 109 Kilometer heute ganz gut hinbekommen.
Das Hotel ist leider mit 80 Euro-Cent noch billiger als mein Stammquartier in den letzten Tagen. Dafür bekomme ich auch gleich ein Girlfriend für die Nacht angeboten. Ist aber wohl nicht inklusive. Jedenfalls versäume ich, nach dem Preis zu fragen.
Das Hotel liegt ruhig (sieht man von der Dauer-Musik ab), abseits der Hauptstraße, die aber nachts sowieso so gut wie nicht befahren wird. Der Innenhof ist schön begrünt. Und nach einer Dusche unter ein paar Wassertropfen und ein bisschen Wäschewaschen lasse ich mich zu Spaghettis nieder, die ich nur dank einer Intensiv-Recherche in der wie stets von Rauch erfüllten Küchenhütte auftreibe. Sie waren schon gekocht, sind kalt, aber völlig ok. Also werden sie für mich noch mal heiß gemacht.
"Guten Appetit" wünscht mir Misrak vom Nachbartisch. Die 32jährige fiel mir schon wegen ihrer eng anliegenden Kleidung mit hochgeschlagener Jeans-Hose auf. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet, der in Deutschland lebt, und ist froh, mal Deutsch zu sprechen. Geheiratet haben die beiden in Äthiopien, ohne dass Misrak je in Deutschland gewesen wäre. Mehrfach hat sie seitdem versucht, in Deutschland heimisch zu werden. Spricht gut Deutsch. Aber die abweisende Haltung von Nachbarn und Mitmenschen sowie die Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden, hat sie immer wieder zurückkehren lassen.
Jetzt hofft Misrak, dass ihr Mann, ein Programmierer, binnen Jahresfrist nach Äthiopien übersiedelt. Sie hat von einer Bettlerin einen inzwischen dreijährigen Sohn adoptiert. Der adoptierte Sohn darf allerdings nicht mit nach Deutschland kommen. Ich lerne noch ihren Onkel samt Familie kennen, bei dem sie in einem Zimmer mit ihrem Sohn lebt. Es gibt schon schwierige Konstruktionen. Sie möchte kein Leben wie ihre deutschen Schwiegereltern mit einer großen, weitgehend leeren Villa - ohne ein einziges Enkelkind.


Äthiopien: fast ein bisschen Urwald
Fast ein bisschen Urwald


Schüler am Morgen zu Fuß auf dem Weg zur Schule in Dembecha, ÄthiopienDie Dusche hat vielleicht früher mal funktioniert
Dienstag, 16. März 2010: Dembecha - Debre Markos - Dejen (117 km)

Schlafe schlecht in der Billigst-Unterkunft. Dafür starte ich schon um halb acht. Dembecha ist grad auf dem Weg zur Schule (Foto rechts). Nur 17 Grad. Es geht nur kurz bergab. Schon folgt die erste zehn-Kilometer-Steigung mit 400 Höhenmetern. Das geht noch zügig.
Es gibt nur auf und nieder. Debre Markos liegt mit 2450 Metern auf einem der Gipfel. Die folgenden sind noch höher. Die Straße ist ab jetzt schlechter. In einem der Täler treffe ich die ersten Fernradler auf dieser Tour. Pol und Rob, ein englisches Paar, ist auf dem Heimweg von einem Job in Südafrika. Im Schlepptau folgt noch ein Ortlieb-Fetischist. Sie warnen mich vor Steine werfenden Jungs auf den nächsten Kilometern. Deuten an, dass sie recht rabiat mit ihnen umgehen. Vielleicht führt das dazu, dass meine Toleranzschwelle heut sehr niedrig ist. Es ist auch das unentwegte Auf und Ab, mit dem ich nicht gerechnet habe. Ein paar Meter Schotter wegen Straßenerneuerung kommen hinzu. Es geht nicht voran. Und ich beschließe, dass ich nicht auf jedes Kind am Straßenrand eingehen muss. Auf der Hut sein muss ich gleichwohl immer.
Erst die letzten 20 Kilometer fließen endlich locker. Es ist flach. Auf 2450 Metern Höhe. Mehr als 1500 Höhenmeter heute waren immerhin ein gutes Training für den Abstieg in den Nile Gorge morgen.
Das beste Hotel in Dejen ist ausgebucht. Inder spielen dort Volleyball. Ich werde ein paar Meter weiter gereicht an ein winziges, gar nicht lateinisch beschriftetes Etablissement. Die Zimmer sind hier noch winziger als gestern. Nur das Bett plus halbsoviel Platz daneben. Tür und Fenster sind mit Holz verriegelt. Kein Glas. Die Zimmer liegen an einem schmalen nach oben offenen Gang. Aber es ist alles tiptop sauber. Nur Frauen hier zu sehen.
Es gibt keinen Strom im Ort. Ich bekomme eine Kerze in den Raum gestellt. Die Dusche hat vielleicht früher mal funktioniert. Heute fliegt schon die Tür aus dem Rahmen, wenn man sie berührt. Ich bekomme einen Eimer Wasser hingestellt und dusche mich göttlich im Schein meiner über die alte Dusche gehängten Stirnlampe.


Nil-Schlucht/Nile-Gorge, Dejen - Goha Tsion; Affe
Nil-Schlucht mit Affe und Brücke


Chris bei LochsucheIn der Schlucht des Blauen Nil
Mittwoch, 17. März 2010: Dejen - Nile Gorge - Goha Tsion (42 km)

Ich beschließe, dass die Durchquerung der Nil-Schlucht ein Festtag sein soll. Ein Festtag halt mit 1350 Höhenmetern. Ein bisschen wie ein Alpenpass. Nur geht’s erst runter und dann rauf. Und ohne Motorräder.
Passend bekomme ich seit Tagen zum ersten Mal eine Art Frühstück. Und das um viertel vor sieben. Obwohl ich weit und breit der erste und einzige bin. Von sich aus bietet der Kellner ein Omelette an. Ich fall fast vom wackeligen Stuhl. Ein Gericht mit Eiern! Mitten in der Fastenzeit. Ok, er bietet auch Kaffee an, der jedoch nie kommt. Ein anderer bietet Tee an, der auch niemals aufgetischt wird. Aber das Omelette. Vorher entdecke ich noch Malz-Bier im Kühlschrank. Malz-Bier. Endlich mal nicht Mirinda oder Cola. Diese Läden oder Restaurants mit dieser Mini-Auswahl. Die mich mit krank gemacht haben. Weil ich irgendwann nur noch hingeplumpst bin und die mehr oder weniger kalte Mirinda oder Sprite in mich reingeschüttet habe. Stundenlang die einzige Nahrungsaufnahme am Nachmittag.
Frohgemut besteige ich das Rad. Komme keine 80 Meter weit. Es klappert, kracht und knackt. Eine Speiche ist gebrochen. Hinten. Auf der "falschen" Seite. Und ich bekomm sie nicht abgezwackt. Auch nicht mit einer besseren Zange, die ein Junge vom Hotel organisiert. Klebe ich die Speiche an ihre Nachbarin. Jetzt aber. Eine halbe Stunde später der nächste Startversuch.
Die Schlucht beginnt direkt hinter dem Hotel am Ortsausgang von Dejen. Die Straße ist in den letzten Jahren peu à peu unter japanischer Leitung und Finanzierung gebaut worden. Ihr Zustand ist jetzt schon erbärmlich. Der Asphalt wellt sich wo und wie er kann. Ich kann das Rad nie rollen lassen. Dauernd werde ich über Unebenheiten katapultiert. Zwanzig Kilometer lang. D.h. zunächst erst mal 15 Kilometer. Bei einem Brems-Temperaturtest der Felgen merke ich, dass das Hinterrad keine Luft hat. Ok. Sofort sind auch die allfälligen Zuschauer zur Hand. Ich suche das Loch. Schneide eine Plastikflasche auf und opfer ein Teil meiner bescheidenen Wasservorräte: Es findet sich kein Loch. Auch mit mehr Luftdruck nicht. Was bleibt mir, als den Schlauch zu wechseln. Am Ende will der Mantel den Mantelhebern nicht gehorchen. Muss das Taschenmesser ran. Eine Stunde ist futsch. Vor allem ist es eine Stunde heißer.
Halb zehn beginnt der Aufstieg. Von etwa 2430 Metern bin ich runter auf 1150 Meter. Ein Soldat an der Brücke meint, ich sehe ja jetzt schon fertig aus. Hat vermutlich recht. So beginnt der Aufstieg mühsam, zumal noch die ein oder andere Fotoperspektive samt Affe (Foto oben) das Durchstarten verzögert. Der erste Teil bietet zehn, zwölf Prozent Steigung. Irgendwann bin ich im Rhythmus. Und irgendwann wird’s dann flacher. Unangenehm sind die stinkenden LKW, vor allem deren heiß gewordene Bremsgummis. Alle paarhundert Meter steht ein Iveco-LKW oder -Bus, der keinen Mucks mehr von sich gibt.
Auf 1890 Metern taucht unerwartet ein Dorf auf. In dem es irgendwann auch ein paar Shops mit Getränken gibt. Sogar Mineralwasser aus Ambo mit natürlicher Kohlensäure. Eiskalt. Ein Traum.
Der obere Teil ist mit einigen Spitzkehren wieder steiler. Der Aufstieg führt 22 Kilometer lang auf 2510 Meter. (Ist also ein Stück länger und höher als die Süd-Seite.) Da steht das Blue Nile Hotel von Goha Tsion (auch Goha Zion, Gooharsiyon, Gohatsyon, Gohatsion, Goha Tsiyon). Ich stürze ins Restaurant und stehe wieder mal fassungslos vor der Mirinda-Cola-Auswahl. Erst eine Stunde später haben sie dann plötzlich doch Mineralwasser. Und Spaghetti. Auf die warte ich etwa 15 Minuten, um dann festzustellen, dass sie eiskalt sind. Na ja, kommt mir ja gelegen. Ich mache Schluss für heute. Sieht man mal von Duschen, Wäschewaschen und vergeblicher Lochsuche in den Schläuchen ab. Ein Festtag, eben.


Blauer Nil
Der Blaue Nil


Zu dreist ist zu dreist
Donnerstag, 18. März 2010: Goha Tsion - Pass (3100 m) - Fiche - Debre Libanos (95 km)

"It’s summer" begrüßt mich mein Lieblingskellner. Was ist passiert? Es hat geregnet. "Ethiopian summer", ergänzt er noch. Naja, ein echter Regen war das heute morgen nicht. Aber es ist deutlich kälter als an allen Tagen zuvor. 17 bis 25 Grad meldet mein Bike-Computer im Laufe des Tages. Angenehm für den höchsten Teil der Tour.
Vorher widme ich mich noch mal dem Hinterrad. Da auch der Ersatzschlauch am Morgen fast ganz flach ist, entscheide ich mich für einen weiteren Lochsuch-Versuch. Erfolgreich. Es ist nicht wie angenommen, der Mantel. Sondern der Ersatzschlauch hat ein winziges Loch an einem alten Flicken. Mag sein, dass die Hitze gestern im Nil-Tal, die mein Bike-Comuter am Ende einer Pause in der Sonne mit 50 Grad angab, den Flicken gekilled hat. Ich flicke. Und kann unverändert kein Loch am Ursprungsschlauch finden. Völlig rätselhaft. Die Luft muss relativ schnell entwichen sein. Sonst wäre ich nicht 15 Kilometer lang die Schlucht mit bis zu 60 km/h runtergebraust. Und plötzlich ist er leer. Mistery.
Äthiopier rastet auf 3.000 Meter Höhe im Hochland von ÄthiopienAnfangs geht's sanft über die Hügel bergan. Das äthiopische Geld geht mir aus. In Gebre Guracha entdecke ich endlich eine Bank. Dort meint man: nächste Tauschmöglichkeit Addis Abeba. Aber vielleicht helfe man mir im Africa Hotel. Dort dominiert vom Fernseher her eine Parlamentsdebatte aus Addis Abeba. 1:10 bietet man mir für den Dollar. 1:13,3 ist der echte Kurs. 33 Prozent mehr. Unverschämt. Obwohl die Äthiopier bei den meisten Preisen sehr, sehr ehrlich sind. Es ist nichts zu machen. Notgedrungen tausche ich zehn Dollar. Spreche aber noch im Hotelhof einen betuchter wirkenden Hotelgast an. Der gibt mir 20 Dollar zum Kurs von 1:12. Er hätte mir mehr gegeben. Den Hotel-Tausch mache ich rückgängig. Zu dreist ist zu dreist.


Affenhorde on the run am Abzweig nach Debre Libanos
Affenhorde on the run am Abzweig nach Debre Libanos


Kurz danach schwingt sich die Straße langsam in höhere Dimensionen. Die Kids sind heute in der Regel ganz friedfertig. Händeabschlagen scheint ein probates Friedensmittel. Aber auch ältere Jungs und Mädchen können es einfach nicht lassen, nach Geld, Pen oder sonstwas zu fragen. Bei denen bitte ich dann auch um Geld, Pen, Wasser, Schuhe, T-Shirt, Injera, Bicycle und alles mögliche - um den Schwachsinn offen zu legen.



Immerhin zwingen mich die Kids, meine Mittagspause vor den entscheidenden Höhenmetern mehrfach aufzuschieben. Unweit eines ausgebrannten doppelten Tanklastzugs hab ich dann einen älteren Dauerzuschauer beim Genuss von Bananen, Brot und Keksen. Die Eier, die man mir andeutungsweise als gekocht verkauft hat, sind roh.
Dann geht’s munter weiter bergauf. Und ich habe stetig junge Begleiter, die mit meinen sechs, sieben, acht Stundenkilometern wandernd mithalten. Eine Mädchengruppe hält es zehn, zwanzig Minuten aus. Immer mit den Wort auf den Lippen: "Give me money…" Diesmal gelingt es mir, Videos davon zu drehen (YouTube oben links "Give me this money" und rechts).
Dann kratzt der Höhenmesser eine ganze Weile immer wieder an der 3100-Meter-Marke. Bevor es dann nach Fiche bergab geht. Das neue Lion Hotel am Wegesrand ist die eleganteste Erscheinung seit Khartum. Ich lunche Spaghettis. Es ist zu früh am Tag, um hier zu bleiben. Zwölf Kilometer weiter bergab ist der Abzweig zum Nationalheiligtum Debre Libanos. Vier Kilometer geht es auf inzwischen asphaltierter Strecke in das gigantische Grand-Canyon-mäßige Jema-Tal. Am Ortsausgang rennt eine Affenhorde mit 30 Affen, teils die Jungen auf dem Rücken, über die Straße (Foto oben).

Äthiopische Pilgerinnen vor Debre Libanos, Äthiopien Die Wallfahrtskirche hat den Charme ihres Baujahres 1961. Kaiser ("Neguse Negest") Haile Selassie I. wollte sich hier verewigen. Völlig untypisch ist die Kirche vom Grundriss her und mit ihren Glasfenstern, auf denen Prophet Elias recht dynamisch daherkommt. Umlagert ist die Kirche - zumal jetzt in der Fastenzeit - mit Pilgern (Foto links), die hier vielfach zelten.
Ich fahre zurück zur Abzweigung von der Hauptstraße. Dort hatte ich schon ein "Ethio-Germany Park Hotel" gesehen, das von der Straße aus etwas heruntergekommen aussieht. Für zehn Euro - wegen Wasser- und Stromausfall leicht heruntertgehandelt - bekomme ich ein geschmackvoll eingerichtetes Traumhäuschen. Äthiopisch-deutsch in Vollendung. Und das direkt am spektakulären Canyon, an dem ich als einziger Gast zum Abendessen um 2:30 h mit äthiopischer Fastenplatte erwartet werde (Foto hier:).


Äthiopische Fastenplatte vor Canyon im Ethio-Germany Park Hotel am Abzweig Debre Libanos, Äthiopien
Äthiopische Fastenplatte vor Canyon im Ethio-Germany Park Hotel


Bauer pflügt mit Ochsen-JochVon 100 auf Null
Freitag, 19. März 2010: Debre Libanos - Addis Abeba (104 km)

Die letzte Etappe kommt wieder mal als Paradox daher: du bist zerrissen zwischen dem Glück, dass die ausstehenden Kilometer sich der Null nähern und dich von den Qualen der Tour befreien - und der Verzweifelung, dass die letzten zerrinnenden Kilometer diese Tour unweigerlich von einem mitreißenden endlos offenen Unterfangen zu einem Stück Vergangenheit machen. Zumal, wenn das Hotel am KM-Stein 100 vor Addis Abeba liegt. Von 100 auf Null.
Es ist wieder um die 20 Grad. Und aus den dunklen Wolken lösen sich gelegentlich Regentropfen. So folgt alle paar Meter ein Mann mit Peitsche seinem Holzpflug, unter dessen Joch zwei Rinder gepfercht sind, für die nächste Ernte. Während an vielen Stellen noch die alte Ernte bearbeitet wird: endlos kreisende Rinder und stetes Hochwerfen mit einem Sieb trennen die Spreu vom Weizen. Die Luft ist unverändert so hell und klar, dass die Peitschenhiebe aus allen Himmelsrichtungen ganz nah klingen. Und die Männer sich quer über alle Felder hören können.
Mehrfach halten sich Jungs wieder hinten an meinem Rad fest. Einmal platzt mir der Kragen. Dieser Junge hat das persönliche Pech, dass er auf dem Kopf eine Platte mit etwa einem Meter Durchmesser trägt. Damit lässt sich schlecht vor mir fliehen. Der Junge opfert auf der Flucht seine Fracht. Ich bin so wütend, dass ich den doppelten Knoten des Tuches öffne und darunter ein riesiges, schweres, noch warmes Brot finde. Mit dem bereit liegenden Messer trenne ich ein kleines Stück ab. Und radle unter einem Steinhagel unversehrt von dannen. Selten hat ein Stück Brot so gut geschmeckt. Zumal es von einer ungewöhnlichen Getreideart ist.

Chris on the Bike am Ziel vor der Georgs-Kathedrale in Addis Abeba, Äthiopien In Chancho finde ich in einem Hinter-Hinter-Hof ein Internet-Café. Es hat grad einen Monat geöffnet. Der Chef ist enttäuscht über das schleppend anlaufende Geschäft. Ich verspreche ihm goldene Zeiten. Bleibe fast eine Stunde. Draußen regnet's. Ich recherchiere Unterkünfte in Addis Abeba. Und weil ich den vorbereitenden Ankunfts-Text an diesem Computer nicht mehr ändern kann, weil der Text-Editor nicht installiert ist, transferiere ich schon die Botschaft ins Netz: "Angekommen in Addis Abeba". Dabei sind es noch fast vierzig Kilomter. Und auch heute kommen auf hundert Kilometer wieder 1200 Höhenmeter. Durchschnitt an all den Tagen in Äthiopien.
Die allerletzte und heute stärkste Steigung endet auf etwa 2900 Meter mit einer Schranke und einem Kontrollpunkt ohne Kontrolle: die Stadtgrenze von Addis Abeba ist erreicht. Acht Kilometer geht es nun hinab durch den immer stärker werdenden Freitag-Nachmittag-Verkehr der Busse und blau-weißen Sammeltaxis der Stadt bis zum Platz der Plätze, der Piazza an der Georgs-Kathedrale. Damit die auch mit aufs Foto kommt, bitte ich kleine Mädchen (Foto weiter unten), ein Foto von mir zu machen (Foto links).
Weiter geht's die Churchill Road hinab vorbei am Revolutions-Denkmal und Mega-Reklame (Foto unten). Nach 1500 Kilometern seit Khartum endlich mal wieder eine richtige Stadt, eine Metropole. Die vom Reiseführer erwähnten kleinen Hotels an der Churchill Road finde ich nicht. Doch das alt ehrwürdige Ras Hotel ist ganz erschwinglich. Das ist nun das Ende, der Tod der Tour. Es lebe die nächste.


Chris on the Bike, Nivea, Orphans and Vulnerable Children
Addis Abeba: Metropole nach 1500 Kilometern Wüste und Hochland


Der Rote Stern über Hammer und Sichel von Addis Abeba: Revolutions-Denkmal ÄthiopiensKonsummesse auf Äthiopisch
Samstag, 20. März 2010: Addis Abeba

Ein wirklich ruhiger Tag. Weil ich schon beim Hinflug einen Tag durch Addis gestreift bin, gibt es nichts, was ich noch unbedingt sehen muss. Ich genieße den äthiopischen Macchiato in den drei Zentimeter hohen Tassen, Internet, Sheraton und ganz viel Ruhe. Schön ist die Grand Fair: eine Art Konsummesse auf Äthiopisch. Auf dem Messegelände am Masqal-Square. Kleine Snacks in allen Variationen. Bier natürlich. Dashen Beer sponsert die Hauptbühne, auf der alle fünf Minuten neue Tanzgruppen auftreten. Toll.
Vor Sonnenuntergang begebe ich mich zurück ins Ras Hotel. Tipp: Wer keine Lust auf die Durchsuchung des Handgepäcks am Eingang hat, geht direkt daneben unkontrolliert ins Hotel-Restaurant und von dort zu den Zimmern. Die zwar mit KeyCard geöffnet werden. Es reicht aber vermutlich, die KeyCard zwischen Rahmen und Tür zu stecken, um das Schloss zu öffnen.


Zwei Mädchen in Addis Abeba, Äthiopien
Kleine Fotografinnen


Multi-Saft in Schichten mit Avocado, Addis Abeba, ÄthiopienMarx und das Handgefühl des Sprengstoff-Experten
Sonntag, 21. März 2010: Addis Abeba - Flug - Frankfurt

Vom äthiopisch-orthodoxen Gottesdienst an der Georgs-Kathedrale bekomme ich das Finale mit. Kurz darauf sitze ich in der evangelischen, deutschen Kreuzkirche. Um 10.15 Uhr feiert heute der deutsche katholische Pfarrer von Kairo, Monsignore Joachim Schroedel, den Gottesdienst. Er betreut seit 15 Jahren nebenbei Addis Abeba. Hier und heute seine erste Taufe. Ein toller, sehr ökumenischer Gottesdienst. Die Kirche ist mehr als voll. Sabine sitzt neben mir. Die frisch gebackene Germanistik- und Theologie-Bachelorin hat grad ihr halbjähriges Volontariat im Goethe-Institut begonnen. Beim Kirchenkaffee kann ich endlich erzählen von drei Wochen on the road.
Ganz in der Nähe steht das angeblich einzige Marx-Denkmal Afrikas. Meißener Granit, 1984 enthüllt in Anwesenheit von Erich Honecker.
Das Ethnografische Museum im ehemaligen Kaiser-Palast, der jetzt zur Uni gehört, ist mit Ikonen und Musikinstrumenten eine tolle Fortsetzung. An der Piazza genieße ich im Africa Coffee noch einmal die frischen Schicht-Fruchtsäfte mit Avocado (Foto rechts): Papaya, Mango, Orange, Erdbeer. Ein Traum. Zu dem ich die Tour Revue passieren lasse. Äthiopien ist ein faszinierendes Land. In dem ich mich trotz aller Steinwürfe sehr sicher gefühlt habe. I'll be back.
I want to laugh, I want to cry. I want to dance, I want to fly. I want to shout, I want to sing. I want you - beside me. And when I need you, you’ll be there - beside me. (Heather Bond: Beside Me)
Gegen 21 Uhr beginnen die Fahrrad-Flug-Verhandlungen am Bole-Airport. Wie gewohnt passt das Fahrrad schon im Eingangsbereich nicht durch die Durchleuchtungsgeräte. Ein "Sprengstoff-Experte" fühlt von Hand, ob mein Reifen Sprengstoff oder Rauschgift enthält. Gleichwohl wird der Transport des Fahrrads mit meinem Flug für völlig unmöglich erklärt. Ich deute Kompromissbereitschaft an, indem ich beginne, den Korb zu demontieren, den Sattel runterzufahren, den Lenker quer zu stellen.
Der Ober-Facilitator des Flughafens rauscht heran und meint, das Rad müsse als Cargo aufgegeben werden. Oder komplett in alle Einzelteile zerlegt werden. In der Zwischenzeit ist jedoch mein Werkzeug in den Ortlieb-Taschen verschwunden. Und Satteltaschen und Rucksack sind auf Anregung der Schalterfrau mit Plastikfolie zu einem Paket verschweißt. So habe ich zusammen mit dem Rad nur zwei Gepäckstücke. Ein drittes würde 150 Dollar extra kosten. So zahle ich nichts, nicht mal für das Fahrrad. Denn in einem finalen Gespräch kann ich den Ober-Facilitator durch die Bemerkung, Ethiopian Airlines sei doch eine renommierte Linie, die fast nur sehr große Flugzeuge in ihrer Flotte habe, gewinnen. Er besteht nur noch darauf, dass die Luft komplett aus allen Reifen gepresst wird. So hat jeder sein Gesicht gewahrt. Und wir können abheben in die afrikanische Nacht, um am frühen Morgen in Frankfurt zu landen.


Happy Chris in Addis Abeba, Äthiopien
Happy Chris in Addis Abeba


Route Khartum - Addis Abeba



Blaue Linie = Touren-Route; Buchstaben = Start und Ziel der Etappen

Etappen Khartum - Addis Abeba (1.-19.3.2010)

Details mit Geschwindigkeiten, Höhenmetern etc. als Excel-Tabelle

Tag Datum Start Zwischenstationen Ziel km
1. 1.3.2010 Meroe Shendi Khartum 231
2. 2.3.2010 Khartum Wad Madani 193
3. 3.3.2010 Wad Madani Gedaref 237
4. 4.3.2010 Gedaref Gallabat [-13 km] 146
5. 5.3.2010 Gallabat [-13 km] Grenze Sudan/Äthiopien Nagara Chehib [+6 km] 108
6. 6.3.2010 Nagara Chehib [+6 km] Gonder 103
7. 7.3.2010 Gonder
8. 8.3.2010 Gonder Bahir Dar 175
9. 9.3.2010 Bahir Dar
10. 10.3.2010 Bahir Dar Dangla 78
11. 11.3.2010 Dangla Addis Kidame 22
12. 12.3.2010 Addis Kidame
13. 13.3.2010 Addis Kidame
14. 14.3.2010 Addis Kidame
15. 15.3.2010 Addis Kidame Injibara (2560 m) Dembecha 109
16. 16.3.2010 Dembecha Debre Markos Dejen 117
17. 17.3.2010 Dejen Nile Gorge Goha Tsion 42
18. 18.3.2010 Goha Tsion Pass (3100 m) - Fiche Debre Libanos 95
19. 19.3.2010 Debre Libanos Addis Abeba 104
Summe 1760

Engeldecke in der Klosterkirche Debre Berhan Selassie, 
  Gonder, Äthiopien
Engeldecke in der Klosterkirche Debre Berhan Selassie von Gonder


Anschluss Tour 34: Assuan - Khartum (969 km) Feb./März 2007


Nächste Tour: Richen - Füssen (670 km) April 2010

Vorherige Tour: Berlin - Rostock (360 km) Okt. 2009


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