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VG WORTTour 47: Mulde: Zwickau - Dessau (240 km)


Franziska Wunderlich und Christoph Gocke auf dem Muldental-Radweg bei Bad Düben
Franziska und Christoph auf dem Muldental-Radweg

Bike-Blog & Routen-Karte & Etappen-Übersicht
Mulde: Zwickau - Dessau (14.6.-16.6.2009)
Im Osten 20 Jahre nach dem Mauerfall

Foto Special: Diamant-Bike
Foto Special
Diamant-Rad
Die Mulde ist ein kleiner Fluss, deren beiden Zweige der Zwickauer und Freiberger Mulde sich kurz vor Grimma vereinigen und die schließlich bei Dessau in die Elbe mündet. Meine Kollegin Franziska Wunderlich und ich machten uns rund 20 Jahre nach dem Mauerfall mit Rad und Kamera auf, um an Orten, die sonst kaum eine Rolle in der Berichterstattung spielen, die Stimmung in Sachsen und Sachsen-Anhalt einzufangen. Und siehe da: Rollt man mit dem Rad heran, sind die meisten sehr gesprächsbereit.

Die Tour bei YouTube


Zwickau - Grimma


Grimma - Bad Düben


Bad Düben - Dessau


Prolog: Quer durch Ostland
Samstag, 13. Juni 2009: Zug Mainz - Zwickau

Chris on the Bike in ZwickauWer mit Rad und Bahn von Mainz nach Zwickau will, muss wegen des leider immer noch geltenden Fahrrad-Verbots der Bahn in ICEs viel Zeit mitbringen. Rund zwei Stunden mehr als ohne Fahrradbeförderung.
Ein kleiner Umweg führt mich daher zunächst in den Norden nach Göttingen. Von dort geht's vier Stunden lang mit einem Regional-Express nach Zwickau. Quer durch Ost-Land. Neue Bahnhöfe. Neue Menschen?


Muldental-Radweg bei Zwickau
Muldental-Radweg bei Zwickau


"Ich muss Flagge zeigen gegen Rechts..."
Sonntag, 14. Juni 2009: Zwickau - Muldental-Radweg - Grimma (99 km)

André Legler, Hausmann, in ZwickauIch radle an abbruchreifen Häusern vorbei, die es immer noch gibt. Aber auch an grellen Neubauten, die dem himmlischen Westen näher sein wollen. Oder an sorgsam restaurierten Fassaden.
In Zwickau, 20 Jahre nach dem Mauerfall, lebt zum Beispiel André Legler. Der Hausmann kümmert sich um Emma und Selma, seine Zwillingskinder. Und zieht eine gemischte Einheits-Bilanz: Es geht vorwärts; es hat sich was getan; andererseits ist aber ein bisschen halb und halb Deutschland; das ist, was mich stört; dass immer noch der Osten Osten ist und nicht alles Deutschland.

Chris on the Bike mit Kevin am Trabi-Denkmal in ZwickauHier will der Osten Osten sein. Kevin sitzt am Denkmal für den Trabi, der in Zwickau gebaut wurde. Der Osten als Museum? Jeder fünfte Einwohner hat die Stadt seit der Wende verlassen.
Kevin Kühnel, Zivildienstleistender: Im Westen ist doch Arbeit; und deshalb machen viele Jugendliche rüber; weil bei uns im Osten nichts mehr passiert; nur noch ältere Leute; das find ich einfach nur schade.

Kevin Kühnel, Zivildienstleistender, am Trabi-Denkmal in Zwickau Kevin ist Zivildienstleister, hat heute frei. Wie viele, die im Osten aufwachsen, konnte er der Auseinandersetzung mit Neonazis kaum aus dem Weg gehen. Eine Auseinandersetzung, die selten friedlich ist.
Kevin: Ich hab ja eins auf die Fresse bekommen. Ich muss Flagge zeigen gegen Rechts. Ich muss was dagegen machen. Nur von Rumsitzen und Biertrinken kommt nischt.
Kevin organisiert Konzerte gegen Rechts in Zwickau.
Manches bleibt von Zwickaus Tradition. Die Autoproduktion findet ein paar Kilometer Mulde-abwärts statt. Die Zwickauer Mulde ist in der Umgebung der Stadt zu einem Freizeit-Eldorado geworden. Der Muldental-Radweg ein Stück neuer Osten.

Tina Tratz, Reitlehrerin, Reit- und Fahrverein Glauchau West e.V.Eine neue Gesellschaft, die viel mehr Angebote macht als zu DDR-Zeiten: Reiten zum Beispiel. Tina Tratz konnte ihre Pferdeliebe zum Beruf machen. Ihr ist klar, dass das nicht selbstverständlich ist: Es ist halt so, dass es zu DDR-Zeiten nicht so gab; lpg; erst nach der wende war das erst möglich mit privatisierung; pferde privat zu halten; und privat Reitstunden zu machen.
Auch Tina ist in den letzten 20 Jahren durch Höhen und Tiefen gegangen, aber die Gesamtbilanz des deutsch-deutschen Zusammenwachsens ist für sie eindeutig - positiv: Ja, würd ich sagen. Natürlich. Absolut positiv.

Loreen Schulze, Eisverkäuferin und Studentin, auf dem Töpfermarkt in Waldeburg Das Land, das als DDR nur einfach grau wirkte, ist grün. Nicht überall blühende Landschaft, aber wo es blüht, steckt persönliche Anstrengung dahinter.
Loreen ist Studentin, eigentlich. Doch um ihr Studium zu finanzieren, muss sie nebenbei auf Volksfesten jobben: Fünf Euro verdient sie hier in der Stunde. Sie war ein Jahr alt beim Mauerfall. Die DDR ist für sie ein völlig unbekanntes Land. Loreen: Wende, hm, Eltern reden oft drüber; es wird oft gesagt, dass alles anders; manches besser, manches schlechter.
Loreen nutzt die Chancen, die sich ihr bieten. Dazu gehört auch die Möglichkeit, hinzugehen, wohin sie will: Für mich ist sogar Ausland attraktiv; mich hält hier nichts; weil da viele Projekte laufen: Afrika, Kasachstan.

Hermann Richter, Wirt im Biergarten Amerika, SachsenDie weite Welt und die schrumpfende Heimat. Die Muldental-Eisenbahnstrecke ist vor sieben Jahren stillgelegt worden, wie hunderte Bahn-Kilometer der ehemaligen DDR. Die Touristen, die früher mit dem Zug kamen, fehlen jetzt dem Biergarten im sächsischen Amerika. Gern würde man hier den Präsidenten Barak Obama empfangen. Stattdessen Tristesse.
Hermann Richter, der Wirt: Wir haben eben durch die Arbeitslosigkeit aus Arbeitsprozess ausgeschlossen; da die Betriebe fast alle an der Zwickauer Mulde so gut wie zugemacht haben; oder im Höchstfall zwanzig Prozent der in der Produktion Beschäftigten haben noch Arbeit.

Wechselburg: Basilika Wechselburg - berühmte Stiftskirche der Augustinerorden und eine der besterhaltenen romanischen Großbauten Deutschlands; 1993 - Neugründung des Benediktiner-KlostersDas Muldental wird eng. Romantisch. Der Weg führt durch das „Tal der Burgen“. Die waren nach der Vereinigung lange Zeit Sorgenkinder, die wie heiße Kartoffeln zwischen Stadt, Land und Bund hin und her geschoben wurden.
Und romanisch: die Basilika Wechselburg (Foto links) - Stiftskirche der Augustinerorden und eine der besterhaltenen romanischen Großbauten Deutschlands; 1993 wurde hier ein Benediktiner-Kloster gegründet.

Christel Hoffmann, Katzen-Retterin am Schloss Colditz, SachsenDie meisten Burgen und Schlösser sind inzwischen restauriert, werden genutzt. Auch Schloss Colditz. Bekannt vor allem im Ausland, weil hier im Zweiten Weltkrieg alliierte Offiziere als Kriegsgefangene inhaftiert waren.
Christel Hoffmann hat aus dem Schloss 26 Katzen gerettet, als die 700 Räume des Riesen-Gebäudes leer standen. Inzwischen leben nur noch drei der Katzen.
Die halbe Rente opfert sie für ihre Katzenliebe: Ist schon schwer, auch für die Tiere. Wir haben keine Unterstützung bekommen von der Stadt, von dem Tierheim.
Ihre Bilanz ist 20 Jahre nach dem Mauerfall bitter: Ich meine, es haben immer alle hurra geschrien; wie ist das mit Hartz IV: das Geld fehlt vielleicht zum Reisen.
Kurz hinter Colditz bei Sermuth vereinigt sich die Zwickauer Mulde mit der Freiberger Mulde. Hier geht die Fahrt in der nächsten Folge weiter: an der vereinigten Mulde durch das vereinigte Deutschland.


Video zur 1. Etappe: Zwickau - Grimma

Chris on the Bike am Zusammenfluss von Zwickauer und Freiberger Mulde bei Grimma, Sachsen
Am Zusammenfluss von Zwickauer und Freiberger Mulde


"Meine Eltern sagen: In der DDR war es besser, war es billiger..."
Montag, 15. Juni 2009: Grimma - Muldental-Radweg - Bad Düben (65 km)

Franziska Wunderlich und Christoph Gocke an der Mulde bei Grimma, Sachsen Unsere Radtour entlang der Mulde führt mich und meinen Kollegen nach Grimma. Einem Ort, der vor sieben Jahren Sinnbild für eine der größten Naturkatastrophen in Deutschland wurde. 2002 – gerade war das Grau der DDR-Zeit überstrichen, die Straßen neu gebaut – da verwandelt sich die Mulde in einen reißenden Strom und überschwemmt den Ort. Häuser stürzen ein, Straßenzüge werden aufgerissen.

Kerstin Koch, Flutopfer in Grimma Doch ausgerechnet in dieser Zeit rücken die Menschen zusammen – die Katastrophe eint Ost und West.
Kerstin Koch lebt unmittelbar an der Mulde – als sie über die Ufer tritt, steht ihr Haus bis zur ersten Etage unter Wasser. Doch die Hilfsbereitschaft aus dem ganzen Land, macht sie noch heute dankbar: Natürlich. Kirche und dann noch von Leuten. Das waren ja auch teilweise Sachen, wo man auch mal einen Mann braucht. Und da hatten wir ganz liebe aus Halle, die waren zwei oder drei Tage bei uns. Ganz lieben Dank noch mal.
Grimma, in nur 20 Jahren gleich zweimal wieder hergerichtet. Ohne die Wende undenkbar und doch bleibt Kerstin Koch zurückhaltend: Die Wende hat in vielen Beziehungen Vorteile gebracht. Wenn ich an meine Kinder denke einiges an Nachteilen. Es ist heute nicht mehr so einfach, ein Kind groß zu ziehen. Und zu sagen: ja, es kann seinen Weg gehen.

Franziska Wunderlich und Horst Schulze, Pfarrer am Dom St. Marien in Wurzen Wir verlassen Grimma und radeln weiter durch das Muldental. Es tritt sich leicht, angesichts der herrlichen Landschaft. Ohne große Anstrengung erreichen wir die 1000 Jahre alte Stadt Wurzen. Das älteste Bauwerk ist der Dom St. Marien. Als Pfarrer Horst Schulze 1980 hierher versetzt wird, ist der Dom kaum mehr als eine Ruine.
Den Verfall zu stoppen, ist in der DDR mühsam. Geld ist keins da und die Kirche den Obrigen sowieso ein Dorn im Auge – schließlich bildet sich hier auch der Widerstand. Die Friedensgebete ‚89 gehen in die Geschichte ein:
Horst Schulze, Domdechant: Wir saßen hier buchstäblich auf einem Pulverfass, denn nebenan das Schloss, war der Sitz der Volkspolizei, des Volkspolizeikreisamtes. Die Leitung der Polizei hatte Angst, dass hier Leute die Besinnung verlieren; versuchen, den Schlosshof und die Waffen zu stürmen. Es wäre hier zu einer massiven Schießerei gekommen.
Und heute – der Dom ist wunderschön restauriert – doch die Menschen, die mit ihren Gebeten soviel erreichten, glauben die noch immer? Horst Schulze, Dom St. Marien: Alle Menschen glauben etwas. Es ist nur die Frage, wie realistisch dieser Glaube ist und was man unter Glaube versteht. Wo Glaube zur ethischen Verantwortung wird oder zum Gottvertrauen – da ist statistisch gesehen der Glaube nicht gewachsen.

Ina Zeug, 18 Jahre, Auszubildende in Wurzen, Sachsen Statistisch gesehen hat jeder vierte die Kleinstadt verlassen. Weil es nur wenig Arbeit gibt und kaum Ausbildungsplätze:
Ina Zeug, Azubi: Ich war acht Monate im Westen. In Bayern unten, habe dort meine Lehre angefangen. Es war nicht schlecht. Man verdient dort ziemlich gut, aber man muss auch mit den Leuten klar kommen können. Es ist eine ziemliche Umgewöhnung, aber es ist möglich.
Obwohl die 18jährige in Gesamtdeutschland aufwächst, spricht auch sie von Ost und West. Dabei kennt sie die DDR nur noch aus Erzählungen: Ich habe da nicht wirklich Ahnung von, aber meine Eltern sagen: In der DDR war es besser, war es billiger. Deshalb glaub ich das mal. Und so ist sie wieder heimgekehrt.

Melanie Haller, Sozialarbeiterin aus Köln in Wurzen, SachsenAnders Melanie Haller hat ihre Heimat eigentlich gut 500 Kilometer von hier entfernt, in Köln. Doch für die 32jährige Sozialarbeiterin beim Netzwerk für Demokratie ist Wurzen und das nahe gelegene Leipzig zum neuen Zuhause geworden: Ich finde Leipzig total toll. Diese tollen Häuser, diese Kontraste, diese kreativen Projekte, das ganze Grün, große Seen rundum. Es hat eine unheimliche Lebensqualität. Wenn man einen Job hat – muss man natürlich dazu sagen.
Und den hat sie – beim Netzwerk für Demokratie. Ein Projekt, das sich auch gegen rechts stark macht und Anlaufstelle für junge Leute ist. Sie fühlt sich hier, in der Mitte Deutschlands genau richtig: Man hat eine Mittlerfunktion zwischen Ost- und Westdeutschland. Da auch in unserer Generation immer noch viele Vorurteile entstehen. Dass die Ossis… dass da der ganze Solizuschlag hingeht und dann die ganzen Straßen neu gemacht sind und alles ist toll. Und die Ossis über die Wessis genauso. Und viele sagen ja wirklich noch: Mein Sohn, meine Tochter wohnt drüben.

Silke Hussein, Imbiss-Angestellte in Eilenburg, Sachsen Unsere Tour führt uns weiter nach Eilenburg. Wir gönnen uns eine kurze Pause und treffen auf Silke Hussein, die sich vor 20 Jahren nicht hätte vorstellen können, in einem türkischen Imbiss mit türkischen Kollegen zu arbeiten.
Was hatte sie sich denn vorgestellt? Silke Hussein: Da war ich gerade mal Anfang 20. Habe mir da noch nicht so die Gedanken drüber gemacht. Hab gedacht, naja, jetzt kannst du überall hin fahren und so.

Antje Bieligk, Fähr-Frau in Grunau an der Mulde, Sachsen Wir lassen die Stadt, die Häuser hinter uns – malerisch schlängelt sich unsere Route an der Mulde entlang. Es ist spät geworden und wir wollen eigentlich noch über den Fluss. Doch die einzige Fähre in Nordsachsen liegt verlassen am Ufer. Eine Klingel am Fährhaus lässt uns hoffen.
Und tatsächlich – Antje Bieligk und Hund Bootsmann bringen uns hinüber. Die 47jährige arbeitete in der DDR in einer Gärtnerei. Doch mit dem Mauerfall wagte auch sie einen persönlichen Neuanfang: Wie dann die Rente kam - ich weiß nicht, was mich da geritten hat – hab ich mir einen Imbiss gekauft und habe mit dem Imbissgeschäft angefangen. Und das hat sich dann alles so entwickelt. Aber das hätte mir vorher keiner sagen können.
Später wurde daraus eine Gaststätte samt Fährhaus und Fähre: Man muss aber trotzdem auch selber gucken, ob die Sonne aufgeht. Also, es gibt Höhen und Tiefen; das gehört dazu. Bis jetzt hat für mich das Schöne überwogen.
Morgen geht unsere Reise weiter. Die Mulde wird uns weiter begleiten – die Mulde und die Menschen, die an ihrem Ufer leben.

(Text: Franziska Wunderlich)


Video zur 2. Etappe: Grimma - Bad Düben

Christoph Gocke und Franziska Wunderlich auf dem Muldental-Radweg
Christoph und Franziska auf dem Muldental-Radweg


"Was interessiert denn uns die DDR..."
Dienstag, 16. Juni 2009: Bad Düben - Muldental-Radweg - Dessau (76 km)

Christoph Gocke und Franziska Wunderlich auf dem Muldental-Radweg vor der ehemaligen Fidel-Castro-Kaserne der NVA bei Bad DübenGut 160 Kilometer entlang der Mulde liegen hinter Christoph und mir. Doch noch bevor wir richtig in Tritt kommen, endet unsere dritte Etappe in einer Sackgasse.
Hinter diesem Tor waren einst die chemischen Truppen der DDR untergebracht. In die Öffentlichkeit rückte die Kaserne nochmal 2005, als sie zur Kulisse für den Film NVA wurde.

Franziska on the Bike mit SchafenWir radeln weiter – es ist noch früh und kaum ein Mensch unterwegs.

Rudi Geißler, Landwirt bei Bad DübenDa begegnen wir Rudi Geißler: Nach der Wende ist nichts weiter gewesen. Das einzige ist, dass wir mehr Bananen gekriegt haben; aber das andere (winkt ab). Zu essen hatten wir immer, gehungert hab ich nie; meine ganze Familie nicht.
Jeden Morgen ist der 79jährige mit seinem Hund unterwegs. Jeder Stein ist ihm vertraut - schließlich verbringt er schon sein ganzes Leben hier. Er war dabei als die DDR gegründet wurde – und als sie unterging.
Wie haben Sie denn erfahren, dass die Mauer gefallen ist? Rudi Geißler: Das haben wir schon erfahren. Aber uns hat das nichts weiter ausgemacht. Wir sind nicht nach dem Westen abgehauen. Wir wollten nicht. Sind Sie denn traurig darüber, dass es so gekommen ist? Rudi Geißler: Ne, bi n nicht traurig. Gar nicht.

Franziska Wunderlich und Christoph Gocke auf dem Rad in Rösa, Sachsen-AnhaltNur ein halbe Stunde weiter kommen wir nach Rösa, überfahren die Landesgrenze von Sachsen nach Sachsen-Anhalt.

Sven Göttsche, Lehrer mit DDR-Berusfsverbot, in Rösa, Sachsen-Anhalt; Bild: Franziska WunderlichKlaviermusik weckt unsere Neugier Sven Göttsche ist seit 22 Jahren Hausmann, während seine Frau arbeitet. Fünf Kinder haben sie und eine bewegte Vergangenheit. In der DDR bekommen sie Berufsverbot: Weil wir die Wehrerziehung abgelehnt haben, die eingeführt worden ist. Wann war das – 1978 oder 79; ist die eingeführt worden damals in den Schulen. Und wir haben´s gleich damals nach dem Studium abgelehnt, dieses Fach als Klassenlehrer zu unterrichten. Und dann hatten wir beide Berufsverbot. Meine Frau auch mit. Die ist inzwischen wieder Lehrerin.
Sven Göttsche gehört zu denen, die nicht für die deutsche Einheit auf die Straße gehen. Sie wollen vielmehr ihr Land verändern: Es war alles grau. Es war innerlich grau. Wenn man die Menschen fotografiert hat oder gefilmt hat; das waren nur graue Gesichter. Naja. Wir haben unsere innere Freiheit gehabt und wir haben auch da schöne Zeiten erlebt. Ich weiß immer noch die Zeit, wo ich mit Angst zum Briefkasten gegangen bin als Wehrdienstverweigerer.
Und dann bekommen Christoph und ich noch ein kleines Privatkonzert von Raya, der jüngsten Tochter von Sven Göttsche. Für sie ist die DDR nur noch eine Geschichte. Eine Geschichte, die aber nicht verklärt werden darf: Und dass die Leute so schnell vergessen. Aber hier in unseren Bereich haben wir zurzeit eine nie da gewesene Friedlichkeit eigentlich. Ich muss auch sagen, ich war bestimmt kein Kohl-Freund, aber mit den blühenden Landschaften; ein bisschen recht hat er schon gehabt. Muss ich einfach sagen. Da lass ich mich auch mit Eiern bewerfen für. Also da hat er schon recht gehabt.

Junger Mann in Latzhose: Was interessiert denn uns die DDR, wir gucken doch nach vorne.Auf unserem Weg nach Bitterfeld treffen wir ein paar junge Leute. Sie haben die Wende nicht bewusst erlebt. Was wissen sie noch von dem System, in dem ihre Eltern gelebt haben? Mann in Latzhose: Was interessiert denn uns die DDR, wir gucken doch nach vorne.
Für euch ist es gut, dass es so gekommen ist oder? Mann in Latzhose: Jooaa. Ich weiß nicht, ich kenne doch den Unterschied nicht. War doch in der DDR nicht dabei.
Und was denkt ihr über die DDR? Jemals mal Gedanken darüber gemacht, wie das damals war? Mann in Latzhose: Gar nicht.

Kay, Ex-NeonaziNur wenige Meter weiter macht Kay gerade eine kurze Arbeitspause. Er ist 22 – ein Leben in der DDR, das hätte sich der junge Mann nicht vorstellen können: Man hört zwar von anderen, dass es schlimm war. Ich selber glaube nicht, dass ich das durchgestanden hätte. Absolut nicht. Das hätte ich seelisch und moralisch nicht mitgemacht.
Er weiß, dass er im vereinten Deutschland viele Möglichkeiten gehabt hätte, doch er geht einen Weg, den er heute bereut. Mit 13 schließt Kay sich der rechten Szene an: Da fing es an mit Rauchen. Dann ist man hin. Man hat das gehört, man hat die Musik gehört. Man konnte damit nichts anfangen, aber alle haben mit getanzt, mit gefeiert, mit gegrölt. Dann hast du mit gemacht. Dann hast du die Klamotten gewechselt. Dann hast du dir einen kahlen Schnitt verpasst. Und dann bist du einer von denen. Ich hatte meinen Respekt. Niemand wollte mich anfassen, niemand wollte mich dumm angucken. Und wenn er mich anguckt, dann kriegt er halt einen.
Kay ist mittlerweile ausgestiegen, doch mit seinem Lebenslauf und den Vorstrafen hat er es schwer. Trotzdem bleiben Träume und Wünsche: Ich würde gerne mal nach Amerika. Ist auch mal ein Wunsch von mir. Jetzt aber erstmal meins. Erst mal selber bisschen was auf die Reihe kriegen und dann kann man sich immer noch Wünsche erfüllen. Immer Stück für Stück. Kleine Brötchen backen.

Wir fahren weiter – das Ziel ist Dessau. Hier vereinigt sich die Mulde mit der Elbe und wir nehmen Abschied. Abschied von dem Fluß, der uns ein Wegweiser war durch Mitteldeutschland und durch die Geschichte und Geschichten, der Menschen, die an ihm leben.

(Text: Franziska Wunderlich)


Video zur 3. Etappe: Bad Düben - Dessau

Am Ziel: Mulde-Mündung in die Elbe bei Dessau, Sachsen-Anhalt
Am Ziel: Mulde-Mündung in die Elbe bei Dessau


Zwischen Bahn und Bahnsteig
Mittwoch, 17. Juni 2009: Zug Dessau - Mainz

Christoph Gocke mit Sven Göttsche und seiner jüngsten Tochter, Raya; Bild: Franziska WunderlichWieder mal eine Glanzleistung unserer geliebten Deutsche Bahn AG. Köln Hbf. Theoretisch habe ich acht Minuten Zeit um von Gleis 9 nach Gleis 7 zu kommen. Mit Fahrrad, Stativ, Kamera, Taschen, Rucksäcken etc. Eben rund 30 Kilogramm. Praktisch bleiben mir nur drei Minuten, weil unser Zug die obligatorische Verspätung hat. Der Anschlusszug warte aber "abfahrbereit" (was sich später als Lüge erweist) auf uns.
Lange hält unser Zug von der Deutzer Rhein-Brücke kommend Äquidistanz zu zwei Bahnsteigen, um im letzten Moment nach links zu schwenken. Spät, leider, zumindest was den Ausstieg im letzten Waggon, dem Fahrradabteil, angeht, zu spät. Auch nach endgültigem Stillstand des Zuges klafft zwischen Tür und Bahnsteig ein Meter Luft, bzw. das darunter liegende Gleisbett.
Ich konfrontiere den anwesenden Schaffner mit der Problematik und bitte ihn a) mir zu helfen b) dafür zu sorgen, dass der Zug auf Gleis 7 nicht auf und davon fährt. Der DB-Zugbegleiter ist offensichtlich mit der Situation überfordert. Helfen will oder kann er nicht, er könne auch niemanden erreichen von hier hinten aus.
Beides bezweifle ich, habe aber nicht die nötige argumentative Ruhe ihm das auseinanderzusetzen. Der Schaffner bietet mir an, mit Fahrrad samt Gepäck-Berg durch den ganzen Waggon zu preschen zum vorderen Ausstieg, der das Ziel Bahnsteignähe deutlich besser erreicht hat.
Ich beginne also selbst meine einzelnen Taschen über den garstig breiten Graben zu bugsieren. Beklage, keine meiner Kameras griffbereit zu haben. Stelle mit einem Blick auf Gleis 7 fest, dass der Anschluss-Zug noch nicht eingetroffen ist. Und zuguterletzt unterstützt mich der Schaffner doch noch beim Balance-Akt des Fahrrad-Transports zwischen Bahn und Bahnsteig.


Chris on the Bike vor einem Bauhaus-Meisterhaus in Dessau, Sachsen-Anhalt
Bauhaus-Meisterhaus in Dessau


Route Mulde: Zwickau - Dessau



Blaue Linie = Touren-Route; Buchstaben = Start und Ziel der Etappen

Etappen Mulde: Zwickau - Dessau (14.6.-16.6.2009)

Details als Excel-Tabelle

Tag Datum Start Zwischenstationen Ziel km
1. 14.6.2009 Zwickau Muldental-Radweg Grimma 99
2. 15.6.2009 Grimma Muldental-Radweg Bad Düben 65
3. 16.6.2009 Bad Düben Muldental-Radweg Dessau 76
Summe 240

Mulde am Göhrener Eisenbahn-Viadukt bei Wechselburg, Sachsen
Die Mulde am Göhrener Eisenbahn-Viadukt bei Wechselburg


Anschluss Tour 30: Elbe: Hamburg - Dresden (604 km) Juli 2006

Anschluss Tour 9: Mainz - Dresden (715 km) Juni 2000


Nächste Tour: Karakorum-Highway (1010 km) Juni/Juli 2009

Vorherige Tour: Rhône: Quelle - Mündung (905 km) April 2009


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Tour 82: Karibik: Barbados - Haiti (902 km) 2016
Karibik 2016
Chris Tour 91: Jerusalem - Dan - Eilat (1165 km) 2017
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