Danke, Delirium!
Montag, 29. Juni 2009: Koksil - Khunjerab-Pass (4733 m) - Koksil - Sost (106 km)
Vom Frühstart der Bauarbeiter um 4:30 Uhr bekomme ich so gut wie nichts mit. Ich schlafe. Bis ich wach werde. Wieder habe ich Glück, dass der Koch mein Entdecker war. Er bereitet mir ein Frühstück: Brot und Tee. Schwarzer Tee mit viel Milch und noch mehr Zucker. Mit Aspirin geht es hinein. Ich weiß, ich brauche es. Ohne das schaffe ich die letzten 18 Kilometer, die dann doch 22 Kilometer lang sind, und 750 Höhenmeter nicht. Verabschiede mich vom Koch, von Haji Qurban. Ihm verdanke ich, dass ich das Ziel erreichen kann. Mein Sherpa (Foto rechts). Es läuft heute viel besser bergauf. Der Rückenwind ist hier oben noch viel stärker. Nach zwei Kilometern erreiche ich den Checkpoint von Koksil. Hier hätte ich zelten können. Aber ohne Zelt. Dann wird's steiler. Haarnadelkurven. Langsam aber kontinuierlich geht's voran. Auch in den Gegenwindpassagen. Auf 4500 Metern hocke ich mich wieder mal an den Straßenrand. Als ich mich aufrichten will, verliere ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir komme - nach wenigen kurzen Augenblicken, oder auch länger - halte ich mich an der Felswand fest. Was mach ich? Wo bin ich? Noch 250 läppsche Höhenmeter. Vier, fünf Kilometer. Dann bin ich einfach da. Auf dem Khunjerab (Kunjerab Kunjirap, Khunjrab, Kunjirap La, Kunjirap Daban (offizieller chinesischer Name), Khunzhrav, Hongqilapu Shankou, Pinyin: Hongqilapu Danban).
Eine Schranke. Die pakistanischen Grenzkontrolleure bieten mir an, zu Fuß weiter bis zur chinesischen Seite zu gehen. Das Fahrrad muss hier bleiben. Ein Foto mögen sie irgendwie nicht machen. Ich torkle voran Richtung Rohbau eines chinesischen Triumphbogens. Und weine. Heule. Die Anspannung löst sich. Ich bin hier. Ich bin da. Sinnloses Glück. High. Ganz allein. Es ist nicht warm, nicht kalt, nicht windig, nicht sonnig, nicht wolkig. Einfach da. Mit der Kamera baller ich unmotiviert in der Gegend herum. Noch schlechter werden zwei Selbstauslöser-Fotos. So what? Hier oben ist zum ersten Mal wieder Handy-Empfang. Chinesisch, versteht sich. Ich twitter einen Tweet in die Höhenluft des K2-Massivs. Die Worte bildeten sich in den Morgenstunden auf den letzten Metern und trieben mich mit sich nach oben: "montag, 29.6. 13 h: grüßle vom khunjerab. danke delirium, danke aspirin, danke wind, danke asphalt, danke heinrich, thank u india, thank u terra, thank u." Die letzten Zeichen sind für die amerikanische SMS-Länge, auf die Twitter geeicht ist, zu lang. Schon "India" erreicht nahezu niemanden mehr. Und macht mich dennoch glücklich. Durst und Staub der langen Reise, wer denkt daran zurück? Dominique verdanke ich, dass ich eines Tages, es war so 2002, zumindest in Erwägung zog, das Erklimmen von Bergen mit dem Rad als etwas Erstrebenswertes, etwas Schönes, Bereicherndes zu betrachten. Mann, Dominique. Das hat mich nun hierhin geführt. Wertvoller Nebenaspekt: Ich erwarte den Rausch nicht erst im Hinabfahren. Die Abfahrt ist fürchterlich, aber es stört mich kaum. Sie ist vor allem laut: der rauschende Fluss, die Bauarbeiten, der Wind, der Fahrtwind. Ein Crescendo. Dadurch, dass ich den Fahrradkorb im Hotel gelassen habe, kann ich recht rücksichtslos über Stock und Stein und Schotter. An einer Stelle ist grad ein halber Berg auf die Straße gesprengt worden. Autos müssen Stunden warten, bis geräumt ist. Ich nehme mein Rad in die Hände und steige hinter andern Fußgängern hinterher. Die hat der Baggerführer gesehen, abgewartet. Nur mich nicht. Ich schreie. Werde in letzter Sekunde, bevor der Bagger zugreift, sich dreht, gehört. erhört. Zurück in Sost muss ich mich sofort entscheiden. Will ich weiter nach China, muss ich das Ticket für morgen jetzt buchen. Eigentlich reicht es, und die Ungewissheit der Rückfahrt schwebt über dem "Weiter so". Andererseits ist es erst Montag. Fast eine ganze Woche liegt noch vor mir. Soll ich sang- und klanglos zurück nach Pindi? Ich buche die Fahrt. Die Weiterfahrt. |