Zentimeter für Zentimeter gegen den Regen
Donnerstag, 19. Dezember 2013: Kénitra - Suq-el-Arbaa-du-Gharb - Dlalha - Larache (159 km)
Es gehört zu den Phänomenen solcher Touren, dass die Reaktion vor allem von Kindern und Jugendlichen in bestimmten Regionen sehr ähnlich ist. Wird man im einen Dorf bejubelt, ist es meist auch im nächsten so. Andernorts wird man angefeuert, dort ignoriert, woanders mit Steinen beworfen. Im nördlichen Marokko haben sie mich vor elf Jahren ausgelacht. Wo immer eine Gruppe von Mädchen herumstand und mich in meinem Papageien-Outfit wahrnahm, brachen alle sofort in Gelächter aus. Dieses kollektive Gelächter ist mir nirgends sonst so extrem begegnet. Wird es nach elf Jahren immer noch so sein? Ich nähere mich (mit meinem rollenden Wäscheständer: Foto links) einer Kreuzung, will anhalten, um nach dem Weg zu fragen. Und schon bricht eine ganze Gruppe junger Frauen in Gelächter aus. Es ist das einzige Mal heute, aber es ist auch die einzige Gruppe junger Frauen, der ich heute so begegne. Aber sie sind nicht mehr ganz so jung wie vor zehn Jahren.
Die jüngeren ignorieren mich eher, so wie seit Casablanca fast alle. Nach dem Weg frage ich sicherheitshalber einen Mann. Der rät mir ab, zurück zur Küste nach Moulay Bousselham zu fahren. Direkt am Ortsausgang von Kénitra habe ich heute Morgen die Abzweigung zum Meer verpasst. Die einzige Abzweigung war eher in der Art eines Industriegebiets beschildert. Als ich die Autobahn kreuze, ist es schon zu spät. Ich stecke auf der alten Nationalstraße, die in einem riesigen Bogen zum Tagesziel Larache führt. Immer wieder frage ich vergeblich, ob es eine Querverbindung zur Küste gebe. Das Oued Sebou liegt dazwischen und ich bräuchte eine Brücke. Es ist gerade zwölf Uhr, als ich nach 78 Kilometern Suq-el-Arbaa-du-Gharb erreiche. Ein Name wie ein Gedicht, auch wenn es vermutlich nichts anderes als Mittwochs-Markt im Gharb heißt. Die wie immer extrem heiße Tajine, Gemüse (und Fleisch) unter einem Tondeckel, bekomme ich serviert. Ich will es doch noch wissen mit der Verbindung zum Meer. Bei der gegenüberliegenden Shell-Tankstelle. Der Tankstellenwart meint, es seien nach Moulay Bousselham 44 Kilometer und von dort noch einmal 55 Kilometer bis nach Larache. Beides im Grunde richtig, nur sind die letzten 55 Kilometer nicht, wie behauptet, Piste sondern ganz normale Straße. Vorher muss ich mich gegen den Wind zur Küste kämpfen. Außerdem macht die Straße anfangs einen Riesenbogen, den mir eine neu asphaltierte kleinere Straße erspart hätte. Richtig frustrierend wird es, als die Kilometersteine wieder Kénitra ankündigen. Das bedeutet: die Küstenstraße ist durchgehend asphaltiert, auch wenn sie eng an der neuen Autobahn entlangführt. 40 Kilometer Umweg habe ich gemacht. Auf der dicht befahrenen Nationalstraße. Die letzten acht Kilometer zum Badeort Moulay Bousselham spare ich mir. Ich will nach Larache kommen, nachdem mir ein Taxifahrer an der Abzweigung die Entfernung mit seiner Hand auf die Fußmatte gemalt hat: 36 Kilometer. Auch das ist, wie viele, viele Auskünfte heute, leider falsch. Nun gut, wer kann einem in Mainz sagen, ob der Nahe-Radweg bis Saarbrücken führt.
Bis Larache sind es am Ende 44 Kilometer. Schon einmal ist es heute Nachmittag düster am Himmel geworden (Foto rechts). Jetzt fängt es leicht an zu regnen. Dann wendet sich die Straße im 90-Grad-Winkel zur Küste. Der Wind fegt mir wieder ins Gesicht. Mit Regentropfen. Unter der Autobahnbrücke halte ich kurz an. Ein Junge, der schon ein paar Kilometer vor oder hinter mir ist, ebenfalls. Als der Regen etwas nachlässt, schwinge ich mich aufs Rad. Denn die verdunkelte Sonne geht gleich ganz unter. Jetzt legt der Regen erst mal richtig los. In wenigen Sekunden bin ich durch und durch nass. Selbst wenn ich Regenüberschuhe mitgenommen hätte, ich hätte keine Zeit mehr gehabt, sie anzulegen. Dazu der Wind. Im Windschatten eines Wasserturms warte ich ein paar Momente ab. Nass. Kalt. Der Junge fährt vorbei. Mein Rücklicht ist tief unten in der Satteltasche, die ich im Regen nicht öffnen mag. Mit einer Nachtfahrt war nun gar nicht zu rechnen. Ich fahre weiter. Regen und Wind nutzen die Chance und drehen noch mal so richtig auf. Obwohl es nur minimal bergauf geht, komme ich gegen den Wind nicht über sechs, sieben Stundenkilometer hinaus. Zwei Schweizer Fahnen tauchen samt einer Fabrik auf. Zwei weitere Fahnen künden "Rieker Antistress". Eine spätere Online-Recherche zeigt mir, dass es eine Schuhfabrik sein muss. Der Pförtner ruft mir etwas wohl Wohlmeinendes zu. Allein die Vorstellung, jetzt anzuhalten, ist widerlich. Weiter, weiter, weiter. Zentimeter für Zentimeter. Der Mini-Hügel ist überwunden. Selbst jetzt kämpfe ich mich mühsam den Berg hinab. Ein Lichtblick in immer düsterer Dunkelheit:
Die Straße macht wieder eine 90-Grad-Kurve. Ich habe nur noch Seiten-Böen. Und kein Licht. Und kalte Füße. Und kein Ende in Sicht. Rolling hills. Als die Lichter der Stadt schon zu sehen sind, kreuzt die Straße wieder die Autobahn. Von der Stadt weg. Bald kreuzt sie die gut bekannte Nationalstraße, und die führt über die Autobahn hinweg in die Stadt. Auf dieser Strecke fuhr auch der Bus vorgestern zu seinem Zwischenstopp am Busbahnhof. Ich habe mir alles eingeprägt: das unpersönliche Truckerhotel fast an der Autobahn, das Dialysezentrum und irgendwann das Hotel Choumis. Eines von der altehrwürdigen Sorte. Eben in die Jahre gekommen. Das Warmwasser laukalt, Waschbecken-Abfluss läuft nicht, Wind pfeift durchs Fenster, Wlan ein paar Meter rund um die Rezeption.
Booking.com hätte besseres zu bieten gehabt. Irgendwie werde ich warm und die Klamotten bis morgen hoffentlich trocken.
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